Ein Buch für Hanna
der neben ihr auf dem Nachttisch lag, und drückte ihn an ihren Mund. Dabei weinte sie lautlos, um Bente nicht zu wecken.
Auch der Mai war ausgefüllt von harter Arbeit, der Kampf gegen das Unkraut auf den Äckern und im Garten beschäftigte Hanna so sehr, dass sie das Grünen und Blühen um sie herum nur noch beiläufig wahrnehmen konnte. Doch trotz der Anstrengung und der Erschöpfung genoss sie die Arbeit, sie freute sich, dass die Tage heller und wärmer wurden, die Abende länger. Und dass der Sommer kam.
Selbst die Gruppentreffen wurden wieder erfreulicher, es war, als wären alle Mädchen aus einer Art Winterstarre erwacht. Wenn sie sich trafen, berichteten sie begeistert von neugeborenen Ferkeln und Kälbern, von Fohlen, von kleinen Hunden und Katzen, von brütenden Schwalben und von Störchen, die aus dem Süden zurückgekehrt waren. Doch nicht nur in den Ställen und Nestern gab es Nachwuchs. Miras Bäuerin hatte ein Kind auf die Welt gebracht. »Nach vier Söhnen endlich die Tochter, die sie sich so sehr gewünscht hat, süß und mit blonden Löckchen«, erzählte Mira strahlend, und Hanna dachte: »Hier ist es herrlich im Sommer«, sagte das kleine Mädchen. Auf den Feldern wogte das Korn wie ein See, an den Grabenrändern wuchsen gelbe und rote Blumen, an den Zäunen hinauf rankten sich Winden und wilder Hopfen. Rund und groß ging am Abend der Mond auf und die Heuhaufen auf den Wiesen dufteten stark und süß.
Aber im Sommer marschierte auch die deutsche Wehrmacht in Russland ein. »Hitler hat den Nichtangriffspakt gebrochen, den er vor zwei Jahren mit Stalin geschlossen hat«, sagte Schula bekümmert, und Hanna sagte: »Heute versprochen, morgen gebrochen.«
»Wundert euch das?«, fragte Mira. »Den Pakt haben Hitler und Stalin doch nur geschlossen, damit Stalin den Osten Polens besetzen kann und Hitler den Westen. Zwei Diebe haben die Beute untereinander aufgeteilt.«
»Bravo«, sagte Rebekka, »und die ganze Welt hat zugeschaut.«
Der Krieg, der mit der Invasion der deutschen Wehrmacht in Polen begonnen hatte, weitete sich immer mehr aus. Der italienische Diktator Mussolini hatte im September mit Deutschland und Japan den Dreimächtepakt geschlossen, nun kämpften seine Truppen in Nordafrika und auf dem Balkan, und Japan führte Krieg gegen China und hatte Französisch-Indochina besetzt. Die Mädchen standen im Zentrum um den Tisch, auf dem Schula eine Weltkarte ausgebreitet hatte, und suchten die fernen Kriegsschauplätze. Hanna tippte mit dem Finger erst auf den Balkan, dann auf Russland, das auf dieser Karte so klein war, dass ihr Fingernagel den Ural berührte.
»Das ist aber sehr nah«, sagte sie.
»Verdammt nah«, sagte Mira und fügte hinzu: »Von wegen Blitzkrieg, auch das war nur Propaganda.«
Bella sagte: »Und wir sind darauf reingefallen.«
»Ohne Hitlers Eroberungspläne wären wir längst in Palästina«, sagte Rebekka. »Stattdessen sitzen wir in Dänemark fest.«
»Erez Jisroel«, sagte Mira sehnsüchtig. »Manchmal frage ich mich, ob wir das Land der Väter je erreichen.«
Hanna warf ihr einen erstaunten Blick zu, weil sie Erez Israel jiddisch ausgesprochen hatte, genau wie ihre Mutter es immer tat.
»Hitler will ganz Europa schlucken«, sagte die schöne Margot aus Dortmund. »Vielleicht sogar die ganze Welt. Er ist wie ein Ungeheuer, das den Hals nicht voll bekommt.«
Rachel hatte die ganze Zeit mit aufgestütztem Kopf am Tisch gesessen, nun ließ sie die Arme sinken. Hanna fiel auf, dass ihr Gesicht noch schmaler geworden war, die Nase länger. Ihre rotblonden Haare flimmerten im Licht der Deckenlampe. »Auch das hätten wir wissen können, dass Hitler die Russen angreifen würde«, sagte sie. »Wie oft haben wir die Formulierungen ›Volk ohne Raum‹ und ›neuer Lebensraum im Osten‹ gehört, ohne sie richtig einzuordnen.«
Bellas Augen funkelten hinter ihrer Brille. »Und wenn wir sie richtig eingeordnet hätten, hätte das was geändert?«
»Nicht nur wir haben sie gehört«, sagte Mira. »Die anderen doch auch. Waren alle zu dumm, um zu verstehen, was sich angekündigt hat?«
Schula schüttelte den Kopf. »Nein, sie waren nicht zu dumm. Sie haben es so gewollt.«
Nachrichten aus Deutschland kamen selten, einmal erhielt Mira eine Ansichtskarte aus Spanien, von Joschka. Außer Grüßen stand nichts darauf, aber es war immerhin ein Lebenszeichen, auch wenn Mira sich fragte, wieso er aus Spanien schrieb und wie er dort hingekommen war. Hanna hatte schon lange
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