Ein Buch für Hanna
begleitete, dann sagte sie mit einer Stimme, die auf einmal so hoch klang wie die eines kleinen Mädchens: »Ich weiß gar nicht mehr, warum ich mich früher so oft mit Joschka gestritten habe. Auch bei uns ging es um nichts und wieder nichts. Ich glaube, ich war einfach eifersüchtig, weil meine Mutter ihn immer vorgezogen hat. Aber dafür konnte er ja nichts. Er war eben ihr Erstgeborener, ihr Herzensbobbel, sie hat ihn angebetet.«
»Ich erinnere mich nicht, ob ich mich je mit Helene gestritten habe«, sagte Hanna nachdenklich. »Vermutlich hat sie gesagt, was ich tun soll, und ich habe es getan.«
Mira strich ihr so gedankenlos über den Kopf, wie sie vorher über Axlans Kopf gestrichen hatte, gutmütig und ein bisschen herablassend. »Ach, Hannachen, du bist schon immer ein kleines Schaf gewesen.«
Hanna wollte nicht zeigen, dass sie gekränkt war. Sie riss einen Zweig von einem Strauch und schlug damit gegen den hohen Herbstlöwenzahn und die Schafgarben am Wegrand, bis die Blütenköpfe durch die Luft flogen. Mira schien es nicht zu sehen, sie starrte vor sich hin, als gäbe es nichts Wichtigeres als diesen Feldweg und die Grasbüschel, die zwischen dem festgetretenen Kies und den Steinen wuchsen. Erst nach einer ganzen Weile sagte sie, noch immer mit dieser hohen Stimme: »Mir tut es so leid, jeder Streit mit Joschka tut mir leid, jedes freche Wort, das ich zu meiner Mutter gesagt habe, tut mir leid. Alles, alles, alles tut mir leid.«
Gleich fängt sie an zu weinen, dachte Hanna erschrocken, was mache ich bloß, wenn sie anfängt zu weinen?
Sie hatten inzwischen den alten Gutshof erreicht. Mira bückte sich, packte einen Stein und schleuderte ihn gegen das Holztor. Das dumpfe Dröhnen des Aufpralls hörte sich an, als würden die verwitterten Bohlen erschrocken aufstöhnen. Mira warf einen zweiten und einen dritten Stein, dann drehte sie sich zu Hanna um und sagte mit ihrer alten Stimme: »Dumme Sentimentalitäten, davor müssen wir uns hüten!«
Hanna wusste, dass sie diese Szene nicht mehr erwähnen durfte, aber vergessen konnte sie sie nicht.
Im Herbst, als die Rüben und die Kartoffeln geerntet waren, das Getreide gedroschen und gemahlen und die Mieten mit Gemüse gefüllt, da verschlechterte sich der Zustand der Bäuerin. Sie schluckte den Brei nicht mehr, den ihr Bente in den Mund schob, und sie wollte auch nichts mehr trinken. Der Doktor kam nun jeden Tag vorbei, um nach der Kranken zu sehen, und wenn er ihr Zimmer verließ, machte er ein ernstes Gesicht und zuckte mit den Schultern. Hanna lief es jedes Mal kalt über den Rücken, wenn sie an der Tür vorbeiging, hinter der die gelähmte Frau lag und ihrem Ende entgegendämmerte.
Im Haus herrschte eine angespannte Stille, alle schienen die Luft anzuhalten. Hanna hätte erwartet, dass der Bauer sich jetzt öfter ans Bett seiner kranken Frau setzen würde, aber das tat er nicht, im Gegenteil. War er früher nur samstags in die Wirtschaft gegangen, verließ er in diesen Tagen fast jeden Abend das Haus. Es war Bente, die bei der Kranken saß und es Hanna überließ, die notwendigen Arbeiten im Haus zu erledigen. Zum Glück haben wir die zweite Heumahd schon hinter uns und Morten hat Zeit, sonst müsste ich mich auch noch um die Tiere kümmern, dachte Hanna. Doch auch so schaffte sie die Arbeit kaum.
Nach einer Woche starb die Bäuerin. Hanna saß mit dem Bauern und Morten beim Mittagessen, Bratkartoffeln mit Blutwurst, als Bente mit weißem Gesicht in die Küche kam und sagte: »Sie ist erlöst.«
Hanna ließ die Gabel fallen, der Bauer senkte den Kopf so tief, dass sein roter Bart in den Teller hing und sein Gesicht nicht mehr zu sehen war. Morten schaute kurz auf und aß weiter. Bente schickte Hanna los, um Mathilde zu rufen, die Schwester des Bauern, damit sie ihr beim Waschen und Herrichten der Leiche half, und zu Morten sagte sie, er solle dem Pfarrer und den Nachbarn Bescheid geben.
Mathilde kam und verschwand mit Bente im Zimmer der Toten. Hanna hatte den Auftrag, heißes Wasser zu machen, sie trug die Schüssel hinauf und stellte sie vor der Türschwelle auf den Boden, ohne einen Blick auf das Bett mit der Leiche zu werfen, bevor sie in die Küche zurückrannte, als wäre der Teufel hinter ihr her. Sie konnte sich nicht erinnern, je einen Toten gesehen zu haben. Damals, als ihr Vater starb, war sie noch zu klein gewesen, sie wusste kaum mehr, wie er ausgesehen hatte.
Erst als Bente und Mathilde ihre Arbeit beendet hatten, riefen sie
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