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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
    Sie fuhren durch die Nacht, eine wolkenverhangene, sternenlose Nacht, vorbei an dunklen Schatten von Häusern oder Bäumen, die plötzlich auftauchten und gleich wieder verschwunden waren. Wenn sie durch Ortschaften kamen, begleitete sie das wütende Gebell von Hunden. Hanna fror, sie wickelte sich fester in ihren Mantel. Gesprochen wurde nicht viel, und wenn, dann nur flüsternd, was hätten sie auch sagen sollen. Jeder schien in seine Ängste versunken zu sein, in eine eigene, ganz private Angst und in eine andere, allumfassende Angst, die sich wie ein Netz über sie gelegt hatte und sie enger zusammenschob. Atmen konnten sie noch, aber sie waren gefangen. Irgendwo hinter der Fahrerkabine hustete jemand, ein langes, hässliches Husten, bei dem Hanna allein beim Zuhören die Brust wehtat, und ab und zu weinte ein Kind, wurde aber schnell von seiner Mutter beruhigt. Gelegentlich blieb der Lastwagen stehen und weitere Menschen wurden auf die Ladefläche gestoßen.
    Im Osten breitete sich schon fahles, graues Licht am Himmel aus, als sie schließlich einen großen Bahnhof erreichten und ihr Lastwagen neben anderen Lastwagen stehen blieb. Sie mussten absteigen und wurden unter lautem Geschrei und Drohungen zu einem Bahnsteig getrieben, wo ein Güterzug wartete. Man zwang sie, in Viehwaggons zu steigen. In dem allgemeinen Durcheinander wurde Hanna von Sarah und ihrer Familie getrennt, verzweifelt drehte sie den Kopf hin und her, aber nirgendwo sah sie Sarahs hellblauen Mantel mit dem dunkelblauen Samtbesatz, nirgends die dunkle Wollmütze, die Frau Hvid Samuel noch in die Hand gedrückt hatte. Hanna gab auf, sie landete in einem Waggon, der vollgestopft war mit Menschen, die sie nicht kannte, Menschen, mit denen sie nur eines verband, dass sie alle Juden waren. Die Tür schloss sich mit einem Knall, es wurde dunkel.
    Hanna kauerte auf dem Boden, den Kopf auf die angezogenen Knie gelegt. Die Enge war unerträglich. Im Rücken und an den Seiten spürte sie Knie und Ellenbogen, die Gliedmaßen fremder Menschen. Auch als ihre Augen sich an die Dämmerung gewöhnt hatten, schaute sie sich nicht um. Sie fühlte sich, obwohl sie zwischen so vielen Leuten eingequetscht saß, grenzenlos allein und verlassen, so verloren wie nie in ihrem Leben. Sie konnte nicht nachdenken, am liebsten hätte sie geweint wie ein kleines Kind, aber ausgerechnet das Stöhnen und Jammern um sie herum hielt sie davon ab, drängte jeden Ton, der aus ihr herausbrechen wollte, in ihre Kehle zurück.
    Es dauerte lange, bis sich der Zug in Bewegung setzte, und auch dann blieb er immer wieder stehen, ohne dass es einen erkennbaren Grund dafür gegeben hätte. Hanna spürte, wie sie von dem Rattern durchgeschüttelt wurde, der harte Bretterboden schlug gegen ihren Körper, der Schmerz setzte sich fort bis in ihren Kopf. Einmal, als ein Mann neben ihr ein belegtes Brot aus der Tasche zog und anfing zu kauen, dachte sie: Warum haben wir uns nichts zu essen eingepackt? Vielleicht wissen die Hvids nicht, dass man Hunger bekommen könnte. Meine Mutter hätte an Essen gedacht und Bente auch, bei den Hvids hätte vermutlich das Dienstmädchen daran denken müssen. Doch sie schob diesen Gedanken schnell zur Seite, es war sowieso nicht mehr zu ändern. Ein- oder zweimal wurde die Waggontür aufgerissen, als der Zug irgendwo stehen geblieben war, und sie bekamen etwas zu trinken. Einem Mann gelang es, einen der Wassereimer zu ergattern. Der Eimer wurde in eine Ecke gestellt, für ihre Notdurft, war aber nach kurzer Zeit schon voll und lief über. Der Gestank im Waggon wurde so schlimm, dass Hanna nur noch ganz flach zu atmen wagte.
    Inzwischen war sie weitergerutscht und hatte sich einen Platz an der Rückwand erobert, unter einem Spalt in den Brettern, durch den ein bisschen frische Luft hereindrang. Sie hielt den Rucksack fest an sich gedrückt, ihre ausgestreckten Beine wurden steif, ihre Muskeln verkrampften sich, aber wenn sie versuchte, ihre Stellung zu ändern, stieß sie gegen fremde Körper. Allmählich verlor sie jedes Gefühl, alles war ihr egal, auch die schmerzenden Muskeln, die steifen Gelenke und sogar der Gestank. Das Stöhnen und Weinen um sie herum wurde manchmal leiser, dann schwoll es wieder an und mischte sich mit dem Rattern der Räder zu einem monotonen Geräusch, das Hanna langsam in eine Art Dämmerzustand versetzte. Vielleicht waren es auch der Hunger und der Durst, die ihre Sinne betäubten,

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