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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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ihren Sohn. »Samile, willst du uns nicht noch etwas vorspielen?«
    Samuel stand bereitwillig auf, verließ den Salon und kam mit einer Geige zurück. Er strich ein paar Töne mit dem Bogen und drehte an den Wirbeln, strich noch einmal über die Saiten. Dann hob er das Instrument unter das Kinn und begann zu spielen. Noch nie hatte Hanna solche Musik gehört, es klang ganz anders als das, was die Fiedler bei der Hochzeitsfeier im Naundörfchen gespielt hatten, es klang auch ganz anders als die Musik, die sie bei ihren Festen auflegten, anders als die Lieder, die sie sangen. Sie war wie verzaubert und versank in diesen Klängen.
    Doch es war nicht nur die Musik, es war auch der junge Mann selbst. Sie konnte den Blick nicht von Samuel wenden. Er stand vor dem hellgrünen Samtvorhang des Fensters, sein schlanker Körper bewegte sich, als würde er, ganz in sich versunken, eine Art Tanz vollführen, einen Tanz mit seiner Geige. Sein Kopf, leicht geneigt, um das Instrument zu halten, hob und senkte sich mit seinen Armen, mit der Geige, mit den Melodien, es war eine Bewegung, die Hanna ans Herz griff. Seine Wimpern warfen Schatten auf die bräunliche Haut, die vollen Lippen waren leicht geöffnet. Hanna spürte, wie sie innerlich ganz weich wurde. Noch nie hatte sie einen so schönen Menschen gesehen, und je länger er spielte, desto schöner wurde er. »Das war die Violinsonate in d-Moll von Georg Friedrich Händel«, sagte er, als er schließlich den Bogen sinken ließ und sich leicht verneigte.
    Die anderen klatschten, und Hanna war es, als tauche sie aus einem Traum auf, so benommen fühlte sie sich. Später, als sie im Bett lag, das Frau Hvid in einem Gästezimmer im Erdgeschoss für sie bereitet hatte, hörte sie noch immer die schmelzenden Klänge, und das Bild des schönen jungen Geigers mit den gesenkten Lidern begleitete sie in ihre Träume.

Neuntes Kapitel
    E s war noch stockdunkel, als Hanna, von lautem Lärm geweckt, aus einem Traum hochschreckte, den sie im selben Moment schon vergessen hatte. Der Lärm tat ihr in den Ohren weh. Und dann verstand sie, dass draußen jemand gegen die Tür und die Fensterläden schlug. Holz splitterte. »Los, aufmachen!«, wurde gebrüllt, erst auf Deutsch, dann auf Dänisch. »Los, aufmachen!«
    Verwirrt fuhr sie hoch und tastete, noch immer benommen, nach der Nachttischlampe, blinzelte gegen das gelbe Licht. In ihren Ohren begann es zu rauschen, ihre Muskeln verkrampften sich, ihr Magen fühlte sich an wie ein Stein. Das Rauschen ließ nach, als sie hörte, wie eilige Schritte die Treppe vom ersten Stock herunterkamen, wo sich die Schlafzimmer der Familie befanden. Hanna sprang aus dem Bett und zog sich hastig an. Vom Flur her waren unterdrückte Stimmen zu hören, dann ein lautes Quietschen, als der Eisenriegel an der Haustür aufgeschoben wurde. Das gleiche Quietschen hatte sie am Vorabend gehört, als jemand den Riegel geschlossen hatte.
    »Einen Moment!«, rief ein Mann, der Herr Hvid sein musste, obwohl sie seine Stimme nicht erkannte. Sie klang hoch und zittrig und hatte nichts mehr von der gestrigen Selbstsicherheit und Zuversicht.
    Hanna machte die Tür zum Flur auf. Herr Hvid stand an der Haustür, die Hand noch immer am Riegel, als wären seine Finger festgefroren. Er trug einen Morgenrock aus dunkelblauem Velours und das Licht der Deckenlampe über seinem Kopf ließ seine Haare fast weiß aussehen. Ein paar Schritte hinter ihm standen seine Frau und Sarah und Samuel, ebenfalls in Morgenröcken. Sarah und ihre Mutter hielten sich an den Händen. Alle sahen sehr blass und verschreckt aus.
    Herr Hvid löste die Finger vom Riegel und drehte langsam den Schlüssel im Schloss. Die Tür wurde aufgestoßen. Männer drängten herein, bewaffnete deutsche Soldaten in Uniform und Männer in Zivil, aber ebenfalls bewaffnet.
    Einer der Zivilisten hielt eine Liste in der Hand. »Wir suchen den Juden Aaron Hvid, seine Frau Dora, seinen Sohn Samuel und seine Tochter Sarah«, sagte er auf Dänisch. »Sind Sie Aaron Hvid?«
    Herr Hvid nickte und wich zurück, bis er vor seiner Frau und seinen Kindern stand. Langsam breitete er die Arme aus, hielt sie waagrecht zur Seite gestreckt, als könne er seine Familie mit dieser Geste schützen. »Ja«, flüsterte er. »Ja, der bin ich, Aaron Hvid.«
    »Anziehen und fertig machen zum Transport«, sagte der Zivilist.
    Fassungslos starrte Herr Hvid die Eindringlinge an. Seine Arme sanken nach unten und blieben neben seinem Körper hängen,

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