Ein Buch für Hanna
Abfallhaufen spielten Kinder.
Die Neuangekommenen wurden zu einem Platz geführt, wo die Männer von den Frauen und Kindern getrennt wurden. Hanna sah, wie Kinder sich an ihre Väter klammerten und verzweifelt weinten, sie sah Paare, die sich umarmten, hörte Frauen jammern. Sie griff nach Miras Hand, an ihrer anderen Seite drückte sich Rachel enger an sie und im Nacken spürte sie die Atemzüge von Bella und Rosa. So standen sie da und warteten, bis die Männer verschwunden waren und die Menge sich langsam beruhigte.
Die Frauen wurden nun von SS-Männern durch ein großes, gewölbtes Kasernentor in einen Innenhof gebracht. Dort entdeckten sie eine Pumpe, auf die sie sich alle auf einmal stürzten. »Das ist kein Trinkwasser!«, riefen ihnen ein paar Frauen zu, die am Torbogen stehen geblieben waren und hereinschauten, aber das war ihnen egal, sie waren am Verdursten, sie waren bereit, sich um einen Tropfen Wasser zu prügeln. Mira hielt Hanna und die anderen zurück. »Erst die Mütter mit Kindern«, sagte sie.
Hanna konnte sich kaum beherrschen, ihre Zunge war dick und geschwollen und klebte am Gaumen fest, und wenn sie etwas sagte, fühlte sie sich wie Sandpapier an, so trocken war ihr Mund. Je länger sie warteten, umso schrecklicher wurde ihr Durst. Und als sie endlich so dicht herangerückt waren, dass sie die Pumpe schon erkennen konnte und meinte, das Wasser zu riechen, wurde die Qual unerträglich. Eine Frau begann, nachdem sie getrunken hatte, ihre beiden Kinder zu waschen. Das machte ein paar Frauen vor Hanna so wütend, dass sie die Mutter mit ihren Kindern rüde zur Seite stießen und sich auf das Wasser stürzten. Die Zeit dehnte sich in die Länge, Hanna hielt es fast nicht mehr aus, am liebsten hätte sie zugeschlagen und sich gewaltsam einen Platz am Wasser verschafft. Dann war es endlich so weit. Der erste Schluck, der durch ihre geschwollene Kehle lief, tat weh, grauenhaft weh, aber sie konnte gar nicht mehr aufhören zu trinken, auch als sie schon das Gefühl hatte, ihr Magen blähe sich auf und drohe zu platzen. Sie trank weiter, bis Mira sie ungeduldig zur Seite schob.
Dann mussten sie sich wieder aufstellen, mit dem Gesicht zur Wand, bis sie aufgerufen und gruppenweise in einen Raum geführt wurden, den jemand »Schleuse« nannte. Dort wurden sie registriert und bekamen eine Nummer. Sie mussten ihre Koffer und Rucksäcke aufmachen und den Inhalt ihrer Taschen auf einen Tisch legen. Alles, was sie an Geld und Wertsachen dabeihatten, wurde ihnen abgenommen. Hanna besaß nicht viel, nur das restliche Geld, das von dem Schein übrig geblieben war, den Herr Golde ihr damals, vor ihrer Abreise aus Kopenhagen, in die Hand gedrückt hatte. Ganz kurz schoss es ihr durch den Kopf, was wohl aus den Goldes geworden war, aber dann war der Gedanke auch schon wieder verschwunden.
»Schmuck?«, fragte der Mann, als er das Geld in einen Karton gelegt hatte.
Hanna schüttelte den Kopf. Sie besaß keinen Schmuck, ihr silbernes Armband, das sie von Jesper und Marie Sørensen zu ihrem fünfzehnten Geburtstag bekommen hatte, war auf Fünen geblieben, in dem braunen Umschlag mit den Fotos und den Postkarten von ihrer Mutter. Aber Bella trug ihre Kette mit dem goldenen herzförmigen Anhänger um den Hals, ein Geschenk ihrer Eltern. Hanna wusste, wie sehr Bella dieses Schmuckstück liebte. Manchmal strich sie mit den Fingern darüber und dann bekam ihr Gesicht einen so zärtlichen, sehnsüchtigen Ausdruck. Bella weinte, als sie die Kette abnehmen und auf den Tisch legen musste.
Danach wurden sie in einen Raum gebracht, wo Frauen in Uniformen und mit gleichgültigen Gesichtern sie abtasteten, ob sie vielleicht noch irgendwelche Wertsachen an ihrem Körper versteckt hatten. Hanna wurde ganz steif unter den geschäftsmäßigen Griffen der Frau, die ihr mit ihren kalten Händen über Arme, Brust, Hüften und Beine fuhr, kalt und uninteressiert, als taste sie einen Gegenstand ab. Es war eine demütigende Behandlung, doch das war noch nicht das Schlimmste. Nie würde Hanna den Schock vergessen, als die Frau ihr befahl, sich vorzubeugen, und ihr dann von hinten mit der Hand unter den Rock fuhr und einen Finger erst in ihre Scheide und dann in ihren After schob. Sie hatte das Gefühl, vor Scham und Entsetzen gleich tot umzufallen, und wagte nicht, zur Seite zu schauen, ob es den anderen ebenso erging. Und wie ein Blitz schoss es ihr durch den Kopf, dass nun ein neues Leben anfing, dass ab jetzt nie wieder etwas so sein
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