Ein Buch für Hanna
besonders der Durst, jedenfalls verlor sie alles Gefühl für Zeit und wusste nicht mehr, ob Stunden oder Tage vergangen waren.
Das Schütteln, das vom Bretterboden bis in ihren Kopf stieg und jeden Ansatz eines möglichen Gedankens wie Glas zersplittern ließ, war furchtbar. Aber noch furchtbarer war es, wenn der Zug stehen blieb und Hanna nicht wusste, was im nächsten Moment geschehen würde. Manchmal hörte sie ein lautes Krachen, spürte ein plötzliches Schütteln, offenbar wurden Waggons rangiert und neue angehängt, bevor die Fahrt weiterging. Bis der Zug erneut anhielt und die Angst alle anderen Gefühle verdrängte. Die Zeit hatte aufgehört zu existieren. Sekunden wurden zu Minuten und Minuten zu Stunden, es gab keine Regel mehr, keinen Rhythmus, keinen natürlichen Ablauf der Ereignisse. Nur wenn Hanna den Kopf zu dem Spalt in der Bretterwand hinaufreckte, erkannte sie am Licht, ob es Tag oder Nacht war, aber sie konnte sich nicht mehr erinnern, der wievielte Tag, die wievielte Nacht. Dann wieder hatte sie das Gefühl, in einem schrecklichen Traum gefangen zu sein, doch wenn es ihr gelang, die Augen zu öffnen, erschrak sie und wünschte sich den Traum zurück. Wie lange konnte man so etwas aushalten?
Einmal spürte sie, wie jemand nach ihrer Hand griff und sie festhielt. Mit größter Mühe wandte sie den Kopf und sah in dem dämmrigen Licht in das Gesicht einer alten, weißhaarigen Frau, die sie unverwandt anschaute. Hanna senkte den Blick, besaß aber nicht die Kraft, ihre Hand aus dem Griff der Frau zu befreien.
Dann, als sie sich schon fragte, ob dieser Zug bis in alle Ewigkeit so weiterfahren würde, blieb er plötzlich stehen, die Tür wurde aufgerissen, Luft und Licht drangen herein. Im ersten Moment spürte sie nur einen brennenden Schmerz in ihren Lungen und ihren Augen. Die alte Frau hatte ihre Hand losgelassen, Hanna drehte den Kopf zur Seite. Die Frau war umgekippt, ihre noch immer offenen Augen starrten ins Leere. Sie sah nicht erlöst aus, nicht so friedlich, wie die Bäuerin vom Lindenhof ausgesehen hatte. Hanna wollte sich abwenden, doch da meinte sie Bentes Stimme zu hören, die sie drängte: Los, du musst es tun! Gehorsam streckte sie die Hand aus und drückte der toten Frau die Augen zu. Ihr Gesicht war noch warm.
Dann stand sie auf und ließ sich treiben, stieg über am Boden liegende Menschen hinweg und schlug sich die Knie und Hände auf, als sie sich, den Rucksack fest an sich geklammert, aus dem Waggon hinunter auf den Bahnsteig fallen ließ.
Irgendwo in ihrer Nähe sagte ein Mann auf Deutsch: »Wir sind in Bauschowitz.«
»Wo?«, fragte ein anderer.
»In Bauschowitz«, wiederholte der Mann. »Nicht weit von Theresienstadt * .«
Hanna meinte, den Namen Theresienstadt schon einmal gehört zu haben, konnte allerdings nichts damit verbinden. War es ein Ghetto? Ein Arbeitslager? Gehörte es zu Namen wie Dachau, Sachsenhausen, Buchenwald und die Namen irgendwelcher Lager in Polen, die Efraim in der BBC gehört hatte? Sie wollte den Mann fragen, wo dieses Theresienstadt eigentlich lag, in welchem Land, da hörte sie plötzlich, wie jemand ihren Namen rief: »Hanna! Hanna! Hier sind wir!«
Es war Mira, die mit Bella, Rachel und Rosa etwa zwanzig, dreißig Meter von ihr entfernt stand und heftig winkte. Hanna drängte sich zu ihr durch, stieß mit den Ellenbogen Menschen zur Seite, achtete nicht auf ihr lautes Schimpfen, sie sah nur noch Miras dunkle Haare neben Rachels rotblondem Kopf, Bellas fahlblonde Haare und die braunen Locken Rosas. Dankbarkeit stieg in ihr auf und verdrängte jedes andere Gefühl. Sie klammerte sich an Mira, weinte, lachte, weinte wieder. Sie war nicht mehr allein.
Zehntes Kapitel
H anna und ihre Freundinnen standen mitten in der Menschenmenge, die sich vor dem Bahnhof zusammendrängte. Sie klammerten sich aneinander, um sich gegenseitig zu schützen, um sich ja nicht zu verlieren, um in der wogenden Masse nicht unterzugehen. Um sie herum schoben und stießen fremde Menschen, um sie herum wurde geschrien und geweint, aber Hanna hörte nur die vertraute Stimme Miras, die immer wieder sagte: »Festhalten! Nicht loslassen!« Sie hielten sich aneinander fest, sie ließen nicht los, sie waren eine Insel im Meer der Gefahr.
Um die Menge herum liefen Gendarmen wie Hunde um eine Schafherde. Männer in schwarzen Uniformen, von denen jemand sagte, sie gehörten zur SS, schoben sich zwischen sie und befahlen mit lauten, harten Stimmen, sie sollten sich in
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