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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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sie jetzt alle in den Osten deportiert und dies sei der letzte Zählappell. Und wieder jemand sagte: »Es ist die pure Schikane, sonst nichts. Seit wann brauchen sie einen Grund, wenn sie uns schikanieren wollen?«
    Hanna und Mira stützten Rachel, die vor Schmerzen lautlos vor sich hin weinte. Manchmal wurde sie schwer und schlaff in ihren Händen und schien die Besinnung verloren zu haben. Doch jedes Mal, wenn sie meinten, sie nicht mehr halten zu können, kam Rachel glücklicherweise wieder zu sich. Sie blieben dicht zusammen und vermieden es, zu den SS-Männern hinüberzuschauen, die immer wieder auf jemanden einschlugen. Bella klammerte sich an Rosa, sie hatte aufgehört zu weinen. Wenn eine von ihnen pinkeln musste, drängten sich die anderen um sie herum, um sie vor den Blicken der Männer zu schützen, mehr Intimität war nicht möglich. Stundenlang standen sie so da und warteten. Der hellere Fleck am grauen Himmel, der die Stelle anzeigte, wo sich die Sonne hinter Wolken verbarg, wanderte nach oben, bis er hoch am Himmel stand, dann bewegte er sich langsam westwärts und sank tiefer.
    Sie hatten Hunger und Durst, die Beine taten ihnen weh, die Muskeln ihrer Oberschenkel verkrampften sich. Ein schneidender Wind blies ihnen die Kälte bis auf die Knochen. Viele der alten Leute in ihrer Umgebung brachen zusammen. Manchmal half ihnen jemand wieder auf die Beine, aber oft blieben sie einfach liegen und jammerten und stöhnten, bis das Jammern und Stöhnen leiser wurde und schließlich ganz aufhörte. Regen kam auf, bald waren sie völlig durchnässt und zitterten vor Kälte. Die Zeit hatte jede Bedeutung verloren, es gab nur noch dieses Warten, ohne Anfang und ohne Ende, ohne Grund, ohne Ziel.
    Es war schon lange dunkel, als sie endlich ins Lager zurückgetrieben wurden. Aber nicht alle, es gab viele Menschen, die reglos auf dem Boden liegen blieben. Hanna hob die Füße, um nicht auf sie zu treten. Alles, was sie empfand, war ein leichtes Bedauern. Und so etwas wie Befriedigung darüber, dass sie es alle fünf geschafft hatten, diese Tortur zu überstehen.
    Rachel
    Ich kenne das Geheimnis des Schmerzes, ich weiß jetzt, dass der Schmerz keine Empfindung ist, die langsam entsteht und von innen an einem nagt. Der Schmerz, das Zentrum des Schmerzes, ist nichts, was man nur spürt, sondern vor allem etwas, was man sieht. Und wer den Schmerz einmal gesehen hat, mit eigenen Augen, wird ihn sein Leben lang nicht mehr vergessen.
    Das Letzte, was ich wahrgenommen habe, als wir in langen Reihen das Ghetto verließen, zu Tausenden und Abertausenden, waren die Krähen, die über uns am grauen Himmel kreisten. Ich sah die Krähen und blieb einen Moment lang stehen. Ob es war, um die Krähen zu betrachten, oder ob jemand in der Reihe vor mir stehen geblieben war und ich gar nichts anderes tun konnte, als ebenfalls stehen zu bleiben, weiß ich nicht mehr, in meiner Erinnerung sind es die Krähen, die über uns fliegen. Und dann schiebt sich ein schwarzer Arm zwischen mich und den Himmel, eine Hand, die einen Knüppel hält, und dann kommt der Schlag, und der Schmerz ist ein Blitz, ein unerträglich grelles Licht, das mich blendet, lange bevor ich den Schlag spüre und alles schwarz wird, und als ich wieder zu mir komme, sitzen die Krähen auf meiner Schulter und schlagen ihre Schnäbel in mein Fleisch.
    Ich habe kaum Erinnerung an den Tag, an dem wir dort im Talkessel standen, für mich war es eine Zeit der Wellen von Schmerz und Schwärze. Und ich erinnere mich, dass ich irgendwann pinkeln musste, meine Blase drohte schon zu platzen, aber ich schaffte es nicht, meinen Rock hochzuheben, ich konnte meinen linken Arm nicht bewegen, er hing an mir herunter, aufgerissen, abgerissen, auseinandergerissen. Ich weiß nicht mehr, ob ich etwas gesagt habe oder ob Hanna es mir angesehen hat, jedenfalls umfasste sie mich von hinten, hob meinen Rock hoch, zog mir die Unterhose herunter und ließ mich in eine Kauerstellung sinken. Dabei hielt sie mich fest im Arm, so wie Mütter ihre kleinen Töchter am Straßenrand abhalten, wenn sie Pipi machen müssen. Die anderen stellten sich sofort um uns herum, mit dem Rücken zu uns, und hielten ihre Röcke ausgebreitet, um uns vor Blicken zu schützen. Als ich fertig war, hob Hanna mich wieder hoch, zog meine Unterhose hinauf und ordnete meinen Rock, alles mit einer Hand, mit der anderen hielt sie mich fest. Und ich schwankte wieder auf den Wellen von Schmerz und Schwärze auf und ab und konnte

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