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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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es davon ab, wie viele Transporte gerade angekommen oder abgefahren sind.«
    Sie wussten inzwischen, was Transporte bedeuteten, die Drohung hing wie eine dunkle Wolke über Theresienstadt und keiner konnte sich der Angst vor Transporten entziehen. Hanna zuckte jedes Mal zusammen, wenn sie das Wort hörte. Die Angst davor, einem dieser Transporte in den Osten, in andere Lager, zugeteilt zu werden, war ständig da, sie verbarg sich hinter jedem Wort, lauerte in jedem Blick. Niemand wusste, was mit den Abtransportierten wirklich geschah, aber es gab Gerüchte, furchtbare, schreckliche Gerüchte, die man nicht hören wollte und trotzdem aufschnappte.
    »Als ich vor dem Suppenkessel gewartet habe«, sagte Rachel eines Tages, »hat eine Frau gesagt, alle würden sofort umgebracht, wenn die Transporte in dem anderen Lager ankommen, falls sie überhaupt irgendwo ankommen. Jemand, dem die Flucht gelungen ist, hat von Massenerschießungen berichtet, hat sie gesagt. Und dann hat sie von einem Lager geredet, das besonders schlimm sein soll, in Auschwitz. Und als ich gefragt habe, wo dieses Auschwitz liegt, hat sie gesagt, das ist ein Lager in Polen, in der Nähe von Krakau.«
    »Wir dürfen nicht alles glauben, was wir hören«, fuhr Mira sie an. »Es ist nicht gut, wenn man zu viel Angst hat, da bildet man sich leicht alles Mögliche ein.«
    »Ich habe es auch gehört«, wollte Hanna sagen, doch da traf sie Miras Blick und sie klappte den Mund wieder zu.
    Die Angst vor den Transporten war in Theresienstadt so allgegenwärtig wie die vielen Krankheiten, wie die immer wieder ausbrechenden Epidemien, so allgegenwärtig wie der Hunger, wie der ständige Durchfall. Vor alldem hatte man Angst, aber die größte Angst hatte man vor den Transporten. Auch wenn die Gerüchte von Massenmorden vielleicht übertrieben waren, Erfindungen einer überhitzten Fantasie, wie Mira meinte, konnte man doch mit Sicherheit davon ausgehen, dass es dort schlimmer war als hier. An das Leben hier hatte man sich gewöhnt, mehr oder weniger, auch wenn man es nicht als Leben bezeichnen konnte. »Vegetieren« nannte es Gerda.
    Hanna fiel auf, dass es viele Kinder gab, die auf Abfallhaufen herumkletterten und im Müll wühlten. Aber es gab auch Kinder, die spielten Fangen, Verstecken und sogar Seilhüpfen, Spiele, die Hanna von zu Hause kannte, aus der Zeit, in der sie noch Hannelore geheißen hatte. Oft sprachen die Kinder Deutsch, doch noch häufiger hörte sie andere Sprachen, die sie nicht verstand, vor allem Tschechisch. Sie überlegte immer wieder, wo die vielen Kinder herkamen, und als sie einmal ein paar Mädchen sah, die offenbar so etwas Ähnliches wie Himmel und Hölle spielten und Deutsch sprachen, nahm sie eines am Arm und fragte: »Wo sind eure Eltern?«
    Das Mädchen, ein dünnes Ding mit kurzen Stoppelhaaren, riss sich los, musterte Hanna verächtlich und sagte: »So etwas Dummes fragt man hier nicht.« Dann wandte sie sich wieder dem Spiel zu.
    Außer Kindern gab es hier viele alte Leute, unter ihnen eine auffallend große Anzahl einbeiniger, einarmiger oder sonst wie invalider Männer. Hermine, eine Frau, die Hanna in der Warteschlange vor dem Suppenkessel ansprach, erklärte es ihr. Nach Theresienstadt waren, außer prominenten Juden aus Deutschland und der Tschechoslowakei, die jetzt Protektorat Böhmen und Mähren hieß, vor allem ehemalige Kriegsteilnehmer und alte Menschen über fünfundsechzig deportiert worden. »Man hat ihnen eingeredet, das hier sei eine Art Altersheim. Sie haben in Deutschland dafür bezahlt, dass sie hier einen ruhigen Lebensabend verbringen und gepflegt werden, wenn sie krank sind.« Hermines Gesicht zeigte offenen Hohn, ihre Mundwinkel zogen sich nach unten. »Wie konnten sie nur so blöd sein, das zu glauben. Solche Idioten!« Sie stieß verächtlich die Luft aus, dann fügte sie hinzu: »Sie sterben hier wie die Fliegen.«
    Wie recht sie hatte, merkte Hanna bald. Der Tod war hier etwas Alltägliches. Ständig traf man diese hochrädrigen Holzkarren, mit denen alles Mögliche transportiert wurde, zum Beispiel die Kessel mit Essen und auch Tote. Die Karren waren nicht lang genug, oft ragten Füße oder Köpfe der Leichen unter den Tüchern hervor, mit denen sie bedeckt waren. Und einmal sah Hanna, wie der Kopf einer Frau bis auf die Straße gerutscht war und holpernd über das Pflaster geschleift wurde. Sie schaute schnell weg. Sie lernte es, wegzuschauen, denn ohne diese Fähigkeit war ein Ort wie Theresienstadt

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