Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
Vom Netzwerk:
sagen. Auch Hanna wusste nicht, wie sie Gerda hätte trösten können.
    »Davor habe ich mich die ganze Zeit gefürchtet«, sagte Gerda plötzlich. »Deswegen habe ich auch gewusst, dass es passieren wird. Denn das habe ich unter Hitler gelernt: Alles, wovor man sich fürchtet, passiert irgendwann. Merkt euch das.« Sie machte eine Pause, bevor sie weitersprach: »Im September ist ein Transport mit fünftausend Menschen in den Osten abgegangen. Zu diesem Transport hat auch Magdalene gehört, die Frau, von der ich euch erzählt habe, die ehemalige Lehrerin aus Hamburg. Sie war wunderbar, so klug, so kultiviert. Niemand weiß genau, was mit ihnen passiert ist, aber es gibt Gerüchte.« Sie schwieg.
    Hanna starrte sie an. Die Gerüchte, die immer wieder aufkamen, rasten durch ihren Kopf, überschlugen sich. Wer nicht arbeitsfähig sei, werde sofort umgebracht. Hanna wusste nicht, was sie sagen sollte, das Entsetzen raubte ihr jeden Gedanken.
    »Du bist stark«, sagte Mira und umarmte Gerda. »Du bist stark, du wirst es schaffen.«
    In dieser Nacht schlief Hanna auf der oberen Pritsche, neben Bella, sie hatte ihren Platz Gerda überlassen. Lange lag sie wach und hörte Mira und Gerda auf der Pritsche darunter flüstern. Sie sprachen so leise, dass sie nichts verstehen konnte, aber sie wollte es auch nicht verstehen. Sie wollte nichts wissen. Alles, was man weiß, ist letztlich noch schlimmer als die Angst, die man davor gehabt hat, dachte sie, da bleibe ich lieber bei der Angst.
    Am nächsten Morgen war es so weit. Zu fünft brachten sie Gerda zur Schleuse, von dort aus würde sie zum Zug an dem inzwischen fertig gestellten Transportgleis zwischen Theresienstadt und Bauschowitz gebracht werden. Bevor sie den Hof betrat, mussten die Freundinnen sich verabschieden, die SS-Bewacher passten auf, dass nur die zum Transport bestimmten Personen durchgelassen wurden. Gerda drehte sich noch einmal um und hob die Hand, dann war sie verschwunden.
    »Ich fürchte, wir werden sie nicht mehr wiedersehen«, sagte Rachel. »Noch nie ist einer von dort zurückgekommen.«
    Keiner hatte Lust, ihr zu antworten. Bedrückt kehrten sie zu ihrem Block zurück, zu ihrer Arbeit. Obwohl sie nicht über Gerda sprachen, wusste Hanna, dass alle an die Münchnerin dachten und hofften, sie irgendwann, wenn dieser Wahnsinn vorbei wäre, lebend wiederzusehen.
    Der Alltag ging weiter, ein schrecklicher Alltag, wie Hanna sich ihn nie hätte vorstellen können. Schlimmer kann es nicht werden, dachte sie, aber darin hatte sie sich geirrt.
    Etwa eine Woche nach Gerdas Abtransport geschah etwas, was sie nie vergessen würde, ein Ereignis, das sie noch Jahre später in ihren Träumen heimsuchen sollte und das als Bohušovicer Kesselappell * in die Geschichte Theresienstadts einging. Morgens in aller Frühe mussten sich sämtliche Häftlinge in Fünferreihen aufstellen und wurden aus dem Lager getrieben, in Richtung Bauschowitz. Tausende, Zehntausende von Menschen verließen das Ghetto und bewegten sich in einem nicht enden wollenden Zug weiter, vorwärtsgetrieben von SS-Bewachern, die rücksichtslos zuschlugen, wenn sich jemand ihrer Meinung nach zu langsam bewegte oder gar stolperte.
    Auch Rachel, die am Rand ihrer Gruppe ging, erwischte einen Schlag auf die Schulter. Sie stöhnte und fiel zu Boden. Hanna und Mira halfen ihr hoch, nahmen sie zwischen sich und trugen sie fast weiter. Plötzlich hörten sie Bella aufschreien. »Meine Brille«, jammerte sie, »meine Brille.« In dem Gedränge hatte sie jemand gestoßen und ihre Brille war zu Boden gefallen. Hanna drehte sich um. In den Menschenmassen war es unmöglich, anzuhalten und nach einer Brille zu suchen, die unter Hunderten von Füßen bestimmt auch schon zertreten war. »Rosa«, sagte sie, »nimm Bella an der Hand, bitte.« Rosa verstand. Sie ergriff Bellas Hand und zog sich den Arm der Freundin über die Schulter. So gingen sie weiter.
    Sie wurden in einem Talkessel zusammengetrieben, nicht weit von Bauschowitz. Das Tal war von Gendarmen und SS-Bewachern umzingelt, darüber kreisten Flugzeuge. Es war ein regnerischer Tag und der kalte Wind ließ sie zittern. Niemand wusste, was los war. Sie standen und warteten, nur ab und zu hörte man SS-Männer brüllen und ein Häftling schrie auf, dann war es wieder still. Eine seltsame Stille, in der das Atmen der vielen tausend Menschen sich anhörte wie Wind, der aufkommt und abebbt. Jemand flüsterte, Gefangene seien geflohen, andere meinten, vielleicht würden

Weitere Kostenlose Bücher