Ein Buch für Hanna
da war er schon in Prag. Mein Vater hat sich immer nur für Milan interessiert. Milan würde Medizin studieren, Milan würde ein berühmter Wissenschaftler werden. Milan war ja so begabt. Er hatte das Zeug dazu, Nobelpreisträger zu werden. Milan, Milan, Milan … Milan vorn und Milan hinten.
Dagegen die hässliche Rachel mit der viel zu langen Nase und den dünnen Haaren, die noch nicht mal richtig blond oder richtig rot sind. Farblos. Nichts zum Vorzeigen. Auch die Schulnoten nicht. Höchstens Mittelmaß. Milan dagegen war immer Klassenprimus, ein Sohn, auf den man stolz sein konnte. Milan hat sich nie für mich interessiert, ich war seine langweilige kleine Schwester, die er nach Belieben herumkommandieren konnte. Ob mein Vater mich geliebt hat, weiß ich nicht. Vielleicht hätte er es getan, wenn ich ansehnlicher gewesen wäre.
Meine Mutter hat mich geliebt. Zumindest bis Tilla geboren wurde. Als ich noch klein war, hat sie mich manchmal in den Arm genommen und gesagt: Rochele, mein Schatz. Aber das ist lange her. Mein Gott, bin ich erschrocken, als sie mir sagte, sie würde noch ein Kind bekommen. Da war ich schon fünfzehn. Jetzt wissen alle, was für eklige Sachen mein Vater und meine Mutter miteinander treiben, dachte ich, und als ihr Bauch dicker wurde, konnte ich nichts anderes denken als: Jeder, der sie so sieht, stellt sich jetzt vor, wie mein Vater sein Ding in sie reingesteckt hat.
In diesen Zeiten sollte man kein Kind in die Welt setzen, sagte Tante Cora, die Schwester meiner Mutter. Meine Mutter lächelte und legte die Hand auf ihren geschwollenen Bauch. Doch, sagte sie, gerade in solchen Zeiten ist ein Kind ein Zeichen der Hoffnung.
Für mich war das Zeichen der Hoffnung jedoch ein Zeichen der Schande.
Der Schmerz reißt mich wieder an die Oberfläche, die Krähen hacken, ich bettle um eine Tablette.
Allmählich lassen die Schmerzen nach. Die Krähen werden weniger, kommen seltener. Aber eine habe ich mir behalten. Abends, wenn ich in der Dunkelheit auf meiner Pritsche liege, kommt sie und setzt sich auf meine Brust. Ich streichle sie mit meiner gesunden Hand. Ich weiß, wie schwarz sie ist, und ich weiß, wie scharf und spitz ihr Schnabel ist. Ich streichle sie und sage: Rochele, mein Schatz, und sie berührt mit ihrem Schnabel die Stelle an meiner Schulter, da, wo mich der Schlag getroffen hat.
Zwölftes Kapitel
B ald darauf wurde Hanna krank. Es fing mit Übelkeit und Bauchschmerzen an, dann bekam sie Fieber. Sie konnte nicht arbeiten, sie blieb auf der Pritsche liegen, auf der unteren, neben Rachel, die sich wegen ihrer verletzten Schulter noch immer nicht richtig bewegen konnte, auch wenn es ihr langsam besser zu gehen schien. Mira hatte gesagt, wenn die beiden Kranken auf der unteren Pritsche lägen, würde es ihnen die Pflege erleichtern.
Stundenlang lagen sie allein da, während die anderen bei der Arbeit waren. Hanna rutschte so weit wie möglich an den Pritschenrand, denn jede zufällige Berührung Rachels schmerzte an ihrer heißen Haut, jeder Atemzug, der sie traf, war wie ein Windstoß. Ihre Haut war heißer und spannte stärker als bei jedem Sonnenbrand. Sie hatte Fieber, nicht zum ersten Mal, aber sie konnte sich nicht erinnern, sich je so heiß gefühlt zu haben, als würde sie innerlich verbrennen. Sie wollte auch nicht sprechen. Sie hörte zwar, dass Rachel von Zeit zu Zeit etwas sagte, sie nahm sogar die Besorgnis in der Stimme der anderen wahr, aber sie war zu kraftlos, um zu antworten, sie zog sich in sich selbst zurück.
Sie fühlte sich entsetzlich schlecht. Dazu kam bald ein heftiger Durchfall. Die Toilette neben dem Saal war immer besetzt, denn Hanna war nicht die Einzige, die unter Durchfall litt, und der Gang zur Latrine war weit. Einige Male gelang es ihr nicht, sie rechtzeitig zu erreichen. Dann stand sie anschließend zitternd vor Kälte im Waschraum, reinigte sich notdürftig und wusch die beschmutzten Kleidungsstücke, bevor sie sie nass wieder anzog und sich zurückschleppte auf ihre Pritsche.
Ein paar Tage lang wurde sie von ihren Freundinnen gepflegt, hauptsächlich von Mira und Rosa, denn Bella konnte ohne ihre Brille so schlecht sehen, dass sie sich eher tastend vorwärtsbewegte und ebenfalls Fürsorge brauchte. Der Saft gegen Fieber, den Mira aus der Geniekaserne mitgebracht hatte, half nichts, Hanna wurde zunehmend schwächer. Schließlich schlug Mira vor, sie ins Krankenhaus zu bringen. »Wir haben hier viele jüdische Ärzte«, sagte sie, »gute
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