Ein Buch für Hanna
nicht zu ertragen. Wegschauen und weghören gehörte zu dem neuen Leben, das begonnen hatte. Wie hätte man es sonst aushalten können, wenn SS-Männer mit ihren unvermeidlichen Knüppeln oder mit Gewehrkolben auf Häftlinge einschlugen, oft alte Menschen, die ihre Großväter oder Großmütter hätten sein können, die dann blutend zusammenbrachen und mit überschnappenden Stimmen um Gnade winselten?
Mira zog Hanna unerbittlich weiter, als sie so etwas zum ersten Mal sahen, und bald merkte Hanna, dass ihre Sinne abstumpften. Und nicht nur ihre Sinne. Anfangs dachte sie noch voller Sehnsucht an Fünen zurück, an ihr Leben auf dem Lindenhof, und konnte nicht mehr verstehen, warum es ihr so unerträglich eintönig und langweilig vorgekommen war. Gegen Theresienstadt war Fünen das Paradies gewesen.
Anfangs hatte sie auch oft wehmütig an Jesper und Marie gedacht, hatte sich vorgestellt, wie sie in ihrer Werkstatt saßen und Drachen und Prinzessinnen formten. Was wohl unsere Hanna gerade macht?, würde Marie vielleicht fragen, und Jesper würde dann bedächtig den Kopf hin und her wiegen und sagen: Sie ist auf dem Land, da ist sie sicher. Und Marie würde nicken. Gott sei Dank. Sie hatte auch an Bente gedacht und sogar an ihre Schwester Lea in Palästina, das in immer weitere Fernen rückte. Nur die Gedanken an ihre Mutter hatte sie schnell zur Seite geschoben, sie konnte und wollte sich ihre Mutter nicht an einem Ort wie Theresienstadt vorstellen, ihre Mutter sollte nicht so werden wie die alten Leute hier.
Doch im Lauf der Zeit hörte sie auf, an andere zu denken, alles, was außerhalb Theresienstadts lag, verblasste und verlor an Bedeutung, die Festungsmauern bildeten die Grenzen ihrer Welt. Überhaupt dachte sie wenig nach, sie tat, was getan werden musste, alles war nur auf das nächste Ziel ausgerichtet, und das nächste Ziel war immer das nächste Essen, egal wie schlecht und unzureichend es war.
Hanna war froh darüber, dass sie die Arbeit hatte, die Arbeit half ihr, die Tage zu überstehen. Wie früher, wenn nach dem Winter die Feldarbeit wieder anfing, dachte sie: Arbeit ist das Gerüst, das dem Alltag eine Form gibt. Wenn sie nur nicht immer hungrig gewesen wäre. »Der Hunger ist die oberste Macht in Theresienstadt«, sagte Mira einmal. »Nur die SS ist noch mächtiger.«
Hanna nickte. »Früher habe ich vielleicht manchmal nicht viel zu essen gehabt, aber Hunger habe ich erst hier kennengelernt. Jetzt träume ich davon, mich wieder einmal richtig satt zu essen.«
»Man muss sich mit dem Hunger arrangieren«, sagte Rachel. »Man muss einen Pakt mit ihm schließen, nur so kann man ihn besänftigen.«
Hanna versuchte es, und manchmal gelang es ihr tatsächlich ein, zwei Tage lang ganz gut, dann aß sie dankbar, was sie bekam, und versuchte sich einzureden, so sei das Leben nun mal. Doch dann schlich sich der Hunger wieder in ihr Bewusstsein und füllte es ganz aus, sodass sie an nichts anderes mehr denken konnte als an Essen.
Der Hunger war schwer zu ertragen, aber ohne Arbeit wäre er wohl noch schwerer zu ertragen gewesen. Wieder einmal empfand sie die Routine als Hilfe. Einmal sprach sie mit Mira darüber. Sie lagen abends nebeneinander auf der Pritsche, da sagte Hanna: »Mit der Routine ist es eine seltsame Sache. Wenn man sie hat, kommt sie einem langweilig vor, und wenn man sie nicht hat, sehnt man sich danach und ist unglücklich.«
Mira schwieg lange, dann sagte sie: »Vielleicht ist das der Fehler, dass man sich nach dem sehnt, was man nicht hat. Vielleicht bedeutet Glücklichsein in Wirklichkeit nur, dass man nichts anderes will als das, was man hat.«
Hanna drehte sich zu ihr. »Verdammt, Mira. Das, was wir hier haben, kann keiner wollen.«
»Nein«, sagte Mira. »Das kann keiner wollen. Wir sind ja auch nicht glücklich.«
»Waren wir glücklich?«, fragte Hanna. »Waren wir in Dänemark glücklich?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Mira. »Vermutlich schon. Wir haben es bloß nicht gewusst.«
Gerda blieb nicht lange bei ihnen. Eines Abends bekam sie den gefürchteten Aufruf zu einem Transport in den Osten. Der Lagerälteste war in den Saal gekommen, eine Liste in der Hand, und hatte die Namen der zum Transport bestimmten Frauen vorgelesen. Es waren viele. Gerda weinte nicht, als sie ihren Namen hörte, sie wurde nur sehr blass, und als der Mann den Saal verlassen hatte, begann sie wortlos, ihre Sachen zusammenzusuchen. Mira stand hilflos daneben, offenbar unfähig, etwas zu
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