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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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Ärzte, die werden dich gesund machen.« Hanna hörte, dass die Freundin sich bemühte, Zuversicht in ihre Stimme zu legen, aber ganz gelang es ihr nicht.
    Hanna protestierte, sie wollte auf keinen Fall ins Krankenhaus. Nichts schien ihr schlimmer als eine Trennung von Mira, Bella, Rachel und Rosa, nur mit den anderen zusammen hatte sie eine Chance, das alles durchzustehen, allein wäre sie verloren. In dieser schrecklichen, erschreckenden Welt brauchte man Menschen, an denen man sich festhalten konnte. Sie bettelte darum, hierbleiben zu dürfen, flehte um ihr Leben. Doch als ihr Zustand sich weiter verschlechterte und sie anfing, das Bett zu beschmutzen, gab sie auf. Sie sah ein, dass ihr nichts anderes übrig blieb, und fügte sich in die Trennung.
    Mira besorgte einen der üblichen Karren, sie wickelten Hanna in ihre braune Decke und trugen sie die Treppe hinunter. Hanna lag auf dem harten Holz, das Licht tat ihr weh, ihr Kopf drohte zu zerplatzen, und dann spürte sie, dass sie auch ihren Darm nicht mehr kontrollieren konnte. Sie schämte sich für ihre Schwäche, schämte sich auch dafür, ihren Freundinnen zur Last zu fallen, und zog sich die Decke weit über das Gesicht. Jeder Stoß, jedes Rütteln bereitete ihr unerträgliche Schmerzen. Auf einmal war ihr alles egal, sie wollte nur noch irgendwo liegen, bewegungslos, und nichts mehr spüren. Nur das. Und als Mira und Rosa sie im Krankenhaus ablieferten, war sie sicher, dass der Tod auf sie wartete. Doch ihr war so übel, dass selbst dieser Gedanke sie nicht wirklich erschreckte.
    Rosa strich ihr zum Abschied über die Hand. Mira beugte sich über sie, und als sie Hannas Blick sah, senkte sie den Kopf noch tiefer und flüsterte ihr ins Ohr: »Aufgeben gilt nicht, Hanna. Hörst du, Aufgeben gilt nicht.«
    Hanna schloss die Augen. Sie wollte nicht sehen, wie ihre Freundinnen sie verließen. Sie wollte niemanden sehen, sie wollte in dem Nebel versinken, der sie umgab und immer dichter wurde. Verschwommen spürte sie, dass sie in ein Bett gelegt wurde. Jemand untersuchte sie, drückte an ihr herum, schob ihr ein Fieberthermometer in den Mund und befahl ihr, Tabletten zu schlucken. Sie ließ alles über sich ergehen. Sie war viel zu schwach, um sich zu wehren.
    In den Tagen und Wochen, die sie da lag, bekam sie kaum mit, was mit ihr und um sie herum geschah. Sie dämmerte vor sich hin, schwebte fast körperlos in einem grauen Nebel und versank immer wieder in einem gnädigen schwarzen Loch, aus dem sie nur widerwillig auftauchte, wenn jemand an ihr herumhantierte oder ihr etwas einflößte, ohne dass sie merkte, was es war, Suppe, Tee oder eine Medizin. Ab und zu spürte sie, dass sie gewaschen wurde und dass man ihr Gummiunterlagen unterschob wie einem kleinen Kind, aber sie war sogar zu schwach, um so etwas wie Scham zu empfinden. Erleichtert und dankbar für das Vergessen, das es ihr schenkte, ließ sie sich wieder in das schwarze Loch sinken.
    Wochen vergingen, ohne dass Hanna es wahrnahm, ohne dass sie überhaupt etwas wahrnahm. Sie war in einem zeitlosen Dämmerzustand versunken, der nur durch wenige Momente des Auftauchens unterbrochen wurde. Doch allmählich verlor die Schwärze um sie herum an Intensität, wurde zu einer grauen Wolke, aus der ab und zu für Sekundenbruchteile Bilder auftauchten, bevor sie sich wieder auflösten, ein Löffel, ein Thermometer, eine Tasse, Finger, Augen, Lippen, die sich bewegten, Hände, die ihr mit einem feuchten Lappen das Gesicht abwischten. Es waren nicht immer dieselben Lippen, dieselben Augen, dieselben Hände, die sich mit ihr beschäftigten.
    Es dauerte sehr lange, bis sie erkannte, dass ein ganz bestimmter Mund wieder und wieder aus dem Nebel auftauchte, ganz bestimmte Augen, grün mit langen Wimpern. Und noch länger dauerte es, bis sie merkte, dass diese Augen und dieser Mund zu einem bestimmten Gesicht gehörten, zu einem Jungen, der regelmäßig zu ihrem Bett kam, sie fütterte und manchmal auch nur dasaß und ihre Hand hielt. Er hatte etwas Engelhaftes an sich, sodass sie anfangs glaubte, es handle sich um eine Einbildung, einen Fieberwahn, vor allem weil es ihr nicht gelang, dieses Gesicht länger festzuhalten, es tauchte auf und verschwand, tauchte auf und verschwand. Aber seine Hände, breit und kräftig wie Miras Hände, waren warm und fest, und bald brauchte sie nicht mehr die Augen zu öffnen, um zu wissen, dass er es war, der sie berührte. Die Pflegerinnen, die sie wuschen und umzogen, wechselten

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