Ein Buch für Hanna
mich noch nicht mal bei ihr bedanken.
Das ist alles, was ich von jenem Tag noch weiß. Das Vergessen ist eine große Gnade, für die man dankbar sein muss, das habe ich am eigenen Leib erfahren.
Meine nächste Erinnerung ist, dass ich auf der Pritsche lag. Allein. Rosa war hinaufgezogen zu Bella. Ich lag da und war dem Schmerz ausgeliefert. Nie hätte ich mir so etwas vorstellen können, ein Schmerz, der es einem sogar verbietet zu weinen, denn jeder Schluchzer, jeder unkontrollierte Atemzug verstärkt den Schmerz nur noch. Dann waren sie wieder da, die Krähen, und hackten auf mich ein. Das Einzige, was ich tun konnte, war still dazuliegen und auf eine barmherzige Ohnmacht zu hoffen.
Sie schleppten einen Arzt an, ich hörte ihn fragen, wie das passiert sei. Als er mich untersuchte und anfing, an meiner Schulter herumzudrücken, wurde mir schwarz vor den Augen. Aber die Ohnmacht dauerte nicht lange genug, ich habe gehört, was er sagte: »Da kann man nichts machen. Sie müsste in eine Spezialklinik, hier haben wir keine Möglichkeiten. Ich werde etwas gegen die Schmerzen besorgen, mehr ist mir leider nicht möglich.«
»Wird sie wieder gesund?«, fragte Hanna, und der Arzt sagte: »Wenn sie ruhig liegen bleibt, werden die Schmerzen vorbeigehen. Aber die Schulter wird nicht mehr so sein, wie sie war. Wie weit sie später den Arm bewegen kann, lässt sich jetzt noch nicht sagen. Versprechen kann ich nichts.«
Ich habe es gehört, aber ich habe die Augen nicht aufgemacht. Sie sollten nicht wissen, dass ich es gehört hatte. Ich werde also ein Krüppel sein, dachte ich, und ein Krüppel hat keine Chance, das hier zu überleben. Der Schlag, der meine Schulter getroffen hatte, hatte auch meine Hoffnungen zunichtegemacht. Ich lag auf der Pritsche und wünschte mir zu sterben. Es möglichst schnell hinter mich zu bringen. Aber die Krähen ließen mir keine Ruhe.
Ich wollte aufhören zu essen, um den Schmerz nicht unnötig in die Länge zu ziehen, aber Hanna und Mira erlaubten es mir nicht. Sie haben mich gefüttert und mir Flüssigkeit in den Mund gelöffelt, sodass mir gar nichts anderes übrig blieb, als zu schlucken.
Und dann kam das Wunder: ein bitterer Brei, der mich zum Würgen reizte. »Runterschlucken«, sagte Hanna. »Es ist eine aufgelöste Schmerztablette.«
Ich schluckte und lernte schnell, auf diese Bitterkeit zu warten, sie herbeizusehnen, weil sie mir Schlaf schenkte. Einen seltsam flachen Schlaf, durchzogen von Bildern und Stimmen, die in unzusammenhängenden Fetzen in mir aufstiegen. Meine Mutter, die ihre Bluse aufknöpft und Tilla an die Brust legt. Mein Vater, der sagt: Schade, dass sie so unansehnlich ist.
Ich kann an nichts anderes denken als an den Schmerz.
»Gib ihr noch eine Tablette«, höre ich Hanna sagen.
Mira antwortet: »Wir haben nicht mehr viele, wir sollten sparsam mit ihnen umgehen, wer weiß, ob wir noch mal welche bekommen.«
»Gib ihr noch eine«, drängt Hanna. »Sie braucht sie jetzt, jetzt …«
Und dann spüre ich, wie sie mir den Löffel mit dem bitteren Brei an die Lippen hält, öffne dankbar den Mund und schlucke. Schlucke das gnädige Vergessen.
Als ich aufwachte, saß Hanna neben mir und hielt meine Hand.
»Ich habe einmal die nackte Brust meiner Mutter gesehen«, sagte ich. »Sie hat meine kleine Schwester gestillt. Es war schön und schrecklich zugleich, weil ihre Brust so groß war, so nackt. Ich habe mich so geschämt, dass ich aus dem Zimmer gelaufen bin.«
»Und jetzt?«, fragte Hanna.
»Jetzt habe ich im Waschraum schon so viele Frauen nackt gesehen, junge nackte Körper und alte nackte Körper. Brüste, die schlaff herunterhängen, faltige Hinterteile, faltige Beine. Jetzt kann ich es gar nicht mehr verstehen, dass ich mich damals geschämt habe.«
»Jetzt ist alles anders«, sagte Hanna. »Du brauchst dir keine Vorwürfe wegen damals zu machen, wir haben es nicht besser gewusst. Deine Mutter hat es bestimmt verstanden.«
»Danke«, sagte ich und schlief wieder ein.
Im Traum wollte ich gerade die Wohnzimmertür aufmachen, da hörte ich meinen Vater sagen: Schade, dass sie so unansehnlich ist.
Ich blieb wie erstarrt stehen, wusste sofort, von wem er sprach.
Psst, sagte meine Mutter, sie könnte dich hören.
Ach, sie schläft doch längst, sagte er.
Ich zog die Hand zurück, die ich schon ausgestreckt hatte, drehte mich um und schlich leise zurück in mein Zimmer.
Damals war Milan schon nicht mehr zu Hause, der wunderbare, der großartige Milan,
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