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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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Typhus, Kind. Es ging dir sehr schlecht, wir haben uns große Sorgen um dich gemacht. Aber jetzt bist du über den Berg. Du hast Glück gehabt, dass Marek sich so sorgfältig um dich gekümmert hat.«
    Sie schaute Marek an und versuchte zu lächeln. »Mein Schutzengel«, sagte sie leise.
    Doktor Sigel nickte. »Ja, dein Schutzengel.« Er legte Marek den Arm um die Schulter.
    Der Junge wurde rot, schob den Arm von sich. »Hör auf, Papa«, sagte er. »Das war doch selbstverständlich.«
    So erfuhr Hanna, dass er Doktor Sigels Sohn war.
    Manchmal blieb Marek längere Zeit an ihrem Bett sitzen, besonders abends, nach der Arbeit, und erzählte ihr von sich, von der großen Stadt Prag und dem Haus, in dem er gewohnt hatte, von dem Fluss, der Moldau hieß, von seiner Schule, von Ausflügen. Und er beschrieb ihr sein Zimmer, dessen Fenster auf einen großen, prachtvollen Platz hinausgingen. »Mein Schreibtisch stand am Fenster«, sagte er sehnsüchtig. »Es war alles so hell und schön. Im Erdgeschoss hatte mein Vater seine Praxis, und wenn ich aus dem Fenster geschaut habe, konnte ich sehen, wie die Patienten die Treppe zur Haustür heraufkamen.« Er zuckte mit den Schultern, dann fügte er hinzu: »Es ist erst ein Jahr her, trotzdem kommt es mir so vor, als wäre es ein anderes Leben oder ich ein anderer Mensch gewesen.«
    Hanna nickte, dieses Gefühl kannte sie. »Und deine Mutter?«, fragte sie.
    Marek schwieg eine Weile, dann sagte er leiser, mit einer rauen, traurigen Stimme: »Meine Mutter ist gestorben, als ich acht war. Manchmal kann ich mich schon gar nicht mehr an sie erinnern.«
    Hanna schloss die Augen. Sie hörte seine Stimme und versuchte, alles zu verstehen, was er sagte, doch immer wieder verschwammen die Worte in ihren Ohren und wurden zu unverständlichen Lauten, wie die Buchstaben einer Seite verschwimmen und zu flirrenden Flecken werden, wenn man Tränen in den Augen hat. Und aus den Klängen wurde
    Wind, der Wind wurde zu einem Sturm, der sie hochhob und durch die Luft trug, so schnell, dass ihr schwindlig wurde, und dann stürzte sie nach unten, direkt in Joschkas Arme, und wie damals, als sie hinter ihm auf dem Fahrrad saß, konnte sie durch das Hemd die Wärme seines Körpers spüren, und wie damals roch er nach einer Mischung aus Seife und Schweiß und ein bisschen nach Schokolade. Doch als sie die Augen aufmachte, war es nicht Joschka, der neben ihr saß, sondern Marek. Er erzählte von einer Olga. Welche Olga, dachte Hanna überrascht, ich kenne keine Olga.
    »Sie hat gesagt, es ist ihr Tod, dass wir wegmüssen.«
    Bald wurde ihr klar, dass Olga seine Kinderfrau war, die in den ganzen Jahren für ihn gesorgt hatte. Seine Welt hatte aus Olga bestanden, aus Hanka, der Köchin, und seinem Vater. Und natürlich aus der Schule. Von der Schule sprach er besonders viel, von seinen Freunden, von seinen guten Noten. »Ich bin gern in die Schule gegangen«, sagte er.
    Hanna schlief immer wieder ein, und wenn sie dann aufwachte und er nicht mehr bei ihr war, weil er sich um andere Kranke kümmern musste, versuchte sie sich zu erinnern, was er erzählt hatte, und stellte fest, dass seine Geschichte löchrig war wie ein alter Strumpf. Dann wusste sie nicht, ob er lückenhaft erzählt hatte oder ob sie nur mal wieder eingeschlafen war. Doch allmählich füllten sich die Lücken, und sie nahm auch die Sehnsucht in seiner Stimme wahr, wenn er von Olga sprach.
    Er war schon fast ein Jahr in Theresienstadt, seit März 1943. Damals hatten sein Vater und er den Aufruf zur Deportation ins Ghetto bekommen, zusammen mit vielen anderen Prager Juden. Bis vor drei Monaten hatte er noch im Kinderheim gewohnt, in L 410, dann war er zu seinem Vater gezogen, in einen Verschlag im Keller der Kaserne, in der das Krankenhaus untergebracht war, und hatte angefangen, als Pfleger zu arbeiten.
    »Mein Vater hat es so gewollt«, sagte Marek. »Er hatte Angst, dass ich vom Kinderheim aus mit einem Transport in den Osten geschickt werde. Hier kann er besser auf mich aufpassen, hat er gesagt. Und außerdem bin ich sowieso zu alt für das Kinderheim.«
    Hanna hörte das Bedauern in seiner Stimme. »Wie war es da?«, fragte sie.
    »Nicht so schlimm. Die Kinder bekommen etwas besseres Essen, aber nie so viel, dass sie satt werden, sie hungern ebenfalls, natürlich hungern sie. Aber vielleicht ein bisschen weniger als die anderen. Mir hat dort am besten der heimliche Schulunterricht gefallen. Der findet allerdings nicht in einem

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