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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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einander ab, mal war es eine, mal eine andere, sie konnte sich die Gesichter nicht merken, aber der Engel, der immer wieder kam und sie fütterte, blieb derselbe.
    Allmählich sank ihr Fieber, die Gesichter der Helferinnen wurden klarer, das Gesicht ihres Engels verlor das Engelhafte, wurde langsam zum Gesicht eines Jungen, der ungefähr so alt sein mochte wie sie. Er hatte braune Haare, eine helle Haut und grüne Augen mit bräunlichen Flecken, eine Farbe wie Sauerampfer im Herbst. Er saß nicht die ganze Zeit bei ihr, er kümmerte sich auch um die vielen anderen Kranken, die im Saal lagen, aber dazwischen kam er immer wieder zu ihr herüber, regelmäßig, wie ihr schien, fütterte sie, hielt ihr eine Tasse Tee an den Mund, wischte ihr mit einem feuchten Tuch das Gesicht ab.
    Seine Stimme kam von weit her, aber irgendwann war sie wach genug, um zu verstehen, was er sagte: »Du musst essen, Hanna.«
    Mühsam öffnete sie die Augen, konzentrierte sich, bis sein Gesicht aus dem Nebel auftauchte. Seine Lippen bewegten sich, sehr weiße Zähne blitzten auf. »Du musst essen, Hanna.«
    Das Schlucken fiel ihr schwer, ihre Zunge fühlte sich so dick und geschwollen an, dass kaum Platz war für ihren Atem, geschweige denn für etwas anderes. Aber sie öffnete folgsam den Mund, schluckte, öffnete den Mund, schluckte und spürte, wie sie wieder versank. Der Junge ließ nicht locker. »Hanna … Hanna … Hanna …« Sie öffnete den Mund.
    »Du musst trinken, Hanna …«
    »Hanna … Hanna … Du musst die Augen aufmachen. Gib dir Mühe, Hanna.«
    Er sprach Deutsch mit einem tschechischen Akzent.
    Als sie das erste Mal »danke« sagte, lächelte er und das Engelhafte war wieder da. Ein Gesicht wie auf alten Gemälden, dachte sie, wo habe ich solch ein Gesicht schon einmal gesehen? Aber ihre Kraft reichte nicht zum Nachdenken, sie war müde, entsetzlich müde.
    »Hanna, aufwachen, du musst essen.«
    Es fiel ihr schwer, die Augen längere Zeit offen zu halten. Es fiel ihr auch schwer zu sprechen. »Wer bist du?«, fragte sie. Die Stimme kam krächzend aus ihrer Kehle.
    »Marek«, antwortete er. »Ich bin Marek.«
    Auf einmal fiel ihr ein, wo sie ein ähnliches Gesicht schon einmal gesehen hatte: auf dem goldgerahmten Bild, das in Kopenhagen hing, in der Werkstatt von Jesper und Marie Sørensen, an der Wand zwischen den beiden Fenstern. Auf dem Bild führte ein Engel, in wallende Tücher gehüllt, ein kleines Mädchen über ein schmales Brett, das über einem reißenden Bach lag, und aus dem Wasser ragten gefährlich spitze Felsen. »Guck nicht hin«, hatte Marie immer gesagt, »das Bild ist kitschig, aber ich hänge daran.«
    »Hanna«, sagte Marek. »Hanna, du musst essen«, und sie machte den Mund auf.
    Sie gewöhnte sich an Marek, an seine Anwesenheit, an seine Stimme, an seine Berührungen. Wenn sie aus ihrem Dämmerschlaf erwachte und er nicht bei ihr war, wurde sie von einer quälenden Unruhe gepackt. Dann drehte sie mühsam den Kopf, suchte zwischen den vielen Betten nach ihm, horchte, um aus dem lauten Klagen und Jammern der anderen Kranken seine Stimme herauszuhören, und erst wenn sie ihn irgendwo im Krankensaal entdeckte, war sie beruhigt und konnte die Augen wieder schließen. Auch wenn die Zeiten, in denen sie wach war, häufiger wurden und länger dauerten, versank sie noch oft in den Dämmerzustand, der ihr inzwischen vertraut und angenehm geworden war.
    Eine ihrer ersten Fragen war: »Wie lange bin ich hier?«
    »Fast sieben Wochen«, antwortete Marek. »Du hast Neujahr verschlafen. Wir haben inzwischen das Jahr 1944.«
    Sieben Wochen. Hanna schloss die Augen. Dann zwang sie sich, sie wieder zu öffnen. Marek war noch da.
    »Meine Freundinnen?«, fragte sie. »Mira, Bella, Rachel, Rosa?«
    Marek lächelte. »Sie kommen fast jeden Abend nach der Arbeit und fragen, wie es dir geht. Aber sie dürfen natürlich nicht herein, wegen der Ansteckungsgefahr.«
    »Sag ihnen …«, flüsterte Hanna.
    Er legte die Hand auf ihren Arm. »Ich werde ihnen sagen, dass es dir besser geht«, versprach er und Hanna konnte beruhigt einschlafen.
    Es ging ihr wirklich besser. Das sagte auch der Arzt, Doktor Sigel, der sie untersuchte. Jetzt erst wurde Hanna klar, dass sie ihn ebenfalls schon gesehen hatte, dass auch sein Gesicht zu den Gesichtern gehörte, die aus dem Nebel aufgetaucht und wieder verschwunden waren. Marek stand neben ihm.
    »Was habe ich?«, fragte sie.
    Doktor Sigel strich ihr über die Haare. »Typhus * , du hattest

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