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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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Klassenzimmer statt, sondern in mehr oder weniger zufälligen Grüppchen, wie und wo es sich gerade ergibt. Aber die Lehrer sind großartig, manche sind sogar Hochschulprofessoren. Ich hatte Unterricht in Mathematik und Physik. Wenn das alles hier vorbei ist, will ich Physik studieren. Außerdem habe ich Englisch und Hebräisch gelernt und eine Weile war ich sogar mit einer Gruppe anderer Jungen bei einem berühmten Rabbiner, Leo Baeck * heißt er. Er hat uns von der jüdischen Religion und großen jüdischen Denkern und Philosophen erzählt. Ich bin nicht religiös, aber diesem Rabbiner Baeck habe ich gern zugehört, er konnte spannend erzählen.«
    Hanna schloss die Augen. Sie war so dankbar, dass es Marek gab. Ohne ihn hätte sie sich in diesem Krankensaal voller jammernder und stöhnender Menschen, die fast alle viel älter waren als sie, sehr verloren gefühlt. Vielleicht hätte sie ohne seine Fürsorge auch nicht überlebt.
    »Warum ausgerechnet ich?«, fragte sie ihn einmal, und er verstand sofort, was sie meinte. »Am Anfang hast du mir nur leidgetan«, sagte er, »sehr leid sogar. Vielleicht weil wir gleich alt sind. Und dann hast du mir immer besser gefallen.« Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, wie es passiert, dass man jemanden besonders mag. So ist es eben.« Er wurde rot und wandte das Gesicht ab.
    Sie konnte nun schon aufstehen und mit seiner Hilfe ein paar Schritte gehen. Am Abend führte er sie zum Fenster. Unten vor dem Gebäude standen sie, Mira, Rachel, Bella und Rosa. Sie winkten zu ihr herauf, schrien ihr Grüße und Genesungswünsche zu. Vor Rührung fing sie an zu weinen und Marek brachte sie schnell wieder in ihr Bett.
    »Wann kann ich zurück?«, fragte sie Doktor Sigel, als er das nächste Mal kam. »Wann bin ich wieder gesund?«
    »Vielleicht nächste Woche«, sagte er. »Bleib lieber noch ein paar Tage länger hier, hier ist das Essen besser als draußen und du solltest unbedingt noch ein bisschen zunehmen. Du bist sehr dünn geworden.«
    Abends fragte Marek: »Auch wenn du nicht mehr hier bist, werden wir uns trotzdem treffen, nicht wahr?«
    Hanna spürte, wie ihr ganz warm wurde bei diesen Worten und wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Aber sie sagte nur: »Natürlich werden wir uns treffen.«
    Doch bevor sie wieder so weit hergestellt war, um das Krankenhaus zu verlassen, wurde ein Mädchen zu ihr ins Bett gelegt. Hanna hatte schon längst gesehen, dass in den meisten Betten zwei Frauen lagen, eine am Kopfende und eine am Fußende. Sie war eine der wenigen Patientinnen in diesem Saal, die bisher ihr Bett für sich allein gehabt hatte. Aber jetzt gehe es nicht mehr anders, sagte Marek, als er das Mädchen hereinbrachte und für sie ein Kissen ans Fußende legte.
    Das Mädchen war sehr jung, noch nicht einmal vierzehn, und gerade in Theresienstadt angekommen. Ihr Gesicht und ihre Arme waren mit hässlichen roten Flecken bedeckt, die offen waren und nässten. Sie hieß Ursula und kam aus Berlin.
    »Sobald die Attacke vorbei ist, wirst du ins Kinderheim gebracht«, sagte Marek zu dem Mädchen. »Dort wird es dir besser gefallen. Ich war auch im Kinderheim, bei den tschechischen Jungen. Du kommst wahrscheinlich in L 414, zu den deutschen Mädchen. Und hör auf zu kratzen, ich komme gleich wieder und schmier dich ein.«
    Ursula antwortete nicht. Sie stützte sich auf und schaute Hanna an. »Du brauchst keine Angst zu haben, das ist nicht ansteckend«, sagte sie, als sie Hannas erschrockenen Blick bemerkte. »Ich habe das schon öfter gehabt, aber noch nie so schlimm.«
    Hanna dachte an Bente und ihr Feuermal und bemühte sich, den Ekel, der in ihr aufstieg, zu unterdrücken. Bente zuliebe überwand sie sich und war besonders freundlich zu der Neuen. Und bald stellte sie fest, dass es auch Vorteile hatte, nicht allein im Bett zu liegen. Die Unterhaltung mit dem Mädchen war eine willkommene Abwechslung.
    Ursula erzählte eine Geschichte, die Hanna kaum glauben konnte. Ihre Eltern hatten sie, als die Deportationen der Juden in den Osten begannen, zu einer Familie auf dem Land gebracht. Ein ganzes Jahr lang hatte sie dort gelebt und die Leute waren sehr gut zu ihr gewesen. Bis jemand sie verraten hatte und sie abgeholt worden war.
    »Du meinst, die Leute waren Deutsche?«, fragte Hanna ungläubig. »Keine Juden?«
    Ursula nickte. »Ja, ganz normale Deutsche. Aber sie waren keine Nazis.« Sie kratzte sich am Hals, und Hanna sagte automatisch: »Du sollst dich doch nicht kratzen. Los,

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