Ein Buch für Hanna
erzähl weiter.«
»Ich durfte natürlich nie raus und ich durfte mich auch nicht am Fenster zeigen. Wenn jemand an die Haustür klopfte, musste ich auf den Dachboden rennen und mich hinter einem Schrank verstecken. Das war nicht schön, aber wirklich schlimm war es auch nicht. Die Leute, ich habe sie Onkel Kurt und Tante Trude genannt, haben abends mit mir Mensch ärgere dich nicht gespielt und Onkel Kurt hat mir sogar Unterricht gegeben. Er ist Lehrer. Ich habe keine Ahnung, wer mich verraten hat, vielleicht die Alte aus dem Nachbarhaus, sie hat immer nur aus dem Fenster gehangen und alles beobachtet. Die schlimmste Klatschbase der Welt, hat Tante Trude gesagt, vor ihr müssen wir uns hüten. Eines Nachts sind sie dann gekommen und haben an die Tür gedonnert. Onkel Kurt hat sie hereingelassen und ich bin sofort hinauf zum Dachboden und habe mich hinter dem Schrank versteckt. Sie haben mich gefunden, natürlich haben sie mich gefunden.« Ursula fing an zu weinen. Dann wischte sie sich energisch die Tränen ab und sagte: »Ich habe Onkel Kurt und Tante Trude sehr lieb gehabt. Wer weiß, was die Nazis mit ihnen angestellt haben. Ich muss immer daran denken, was meine Eltern gesagt haben, als sie mich hingebracht haben. Vergiss nicht, du musst ihnen dankbar sein, haben sie gesagt. Wer Juden versteckt, riskiert sein Leben.«
Hanna erkundigte sich nicht, was mit Ursulas Eltern geschehen war, sie hatte gelernt, dass man so etwas in Theresienstadt lieber nicht fragte.
Eines Abends saß Marek an ihrem Bett und erzählte von einer Oper, bei der er mitspielte. »An Neujahr hatten wir eine Aufführung«, sagte er. »Es war wunderbar. Und bald spielen wir wieder.«
»Eine Oper hier im Ghetto? Was für eine Oper?«, fragte Hanna.
»Sie heißt Brundibár . Die hat Hans Krása * , ein Komponist, noch in Prag geschrieben, und als er nach Theresienstadt gebracht wurde, hatte er nur den Klavierauszug dabei. Nach diesen Noten hat er die Oper umgeschrieben, damit er sie hier mit Kindern aufführen kann. Letzten September hatte sie Premiere.«
»Ich war noch nie in einer Oper«, sagte Hanna.
Ursula setzte sich auf. »Ich schon, mit meinen Eltern. Meine Oper hieß Hänsel und Gretel .« Die weißen Flecken von der Salbe, die man auf ihre offenen roten Stellen geschmiert hatte, ließen sie aussehen wie ein Zirkusclown, ihre dunklen Haare standen wirr nach allen Seiten.
»Was ist das für ein Name, Brundibár?«, fragte Hanna.
»Das ist ein tschechisches Wort, auf Deutsch heißt es Hummel, glaube ich.«
»Um was geht es?«
Marek lachte. Er freute sich sichtlich, dass es ihr wieder gut genug ging, um sich für etwas zu interessieren. »Ein Märchen«, sagte er, »ein modernes Märchen. Die Hauptfiguren sind Geschwister, Pepíček und Aninka. Ihre Mutter ist krank, und der Arzt sagt, sie könne nur mit Milch wieder gesund werden. Deshalb gehen Pepíček und Aninka zum Markt, um Milch zu besorgen. Der Bäcker preist sein Brot an, der Eisverkäufer sein Eis und der Milchmann seine Milch. Sie bitten ihn um Milch, aber sie haben kein Geld. Und ohne Geld gibt’s keine Milch, kein einziges Tröpfchen, da können die Kinder betteln, soviel sie wollen. Geld ist das Zauberwort, ohne Geld gibt es nichts. Die Kinder überlegen, wie sie an Geld kommen können. Da sehen sie Brundibár, den Leierkastenmann. Der dreht seine Leier und singt und die Leute geben ihm dafür Geld. Das ist die rettende Idee. Pepíček und Aninka singen ein Lied, ein sehr schönes Lied.«
Marek beugte sich vor und sang leise: »Unsre Gans ist ausgeflogen, morgens war sie weg; Vater meinte, sie zu suchen, hätte keinen Zweck. Warum bist du weggeflogen, in den Sturm hinaus? Wärmer ist es doch im Ofen, komm zurück nach Haus.«
»Ich wäre auch lieber lebendig im Sturm als tot im warmen Ofen«, sagte Ursula. »Aber es ist wirklich ein schönes Lied.«
»Pepíček und Aninka singen«, fuhr Marek fort, »aber niemand hört ihnen zu, der Leierkastenmann spielt zu laut. Sie geben sich Mühe, doch der böse Brundibár vertreibt sie vom Marktplatz. Das ist mein Revier, sagt er und droht, sie zu verprügeln. Die Kinder sind verzweifelt und wissen nicht, was sie machen sollen. Inzwischen ist es dunkel, und sie legen sich irgendwo hin, um zu schlafen.«
»In meiner Oper gibt es auch zwei Kinder«, rief Ursula aufgeregt. »Hänsel und Gretel, die werden von ihrer Mutter in den Wald geschickt, zum Beerensuchen, weil nichts mehr zu essen im Haus ist. Sie verirren sich und
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