Ein Buch für Hanna
ihrer Stimme, als sie gesagt hatte: »Alle sehen bei ihrer Ankunft ganz gut aus, gut genährt und gut angezogen, aber das hält hier nicht lange vor. Wartet’s nur ab.« Gerda hatte recht behalten: Sie waren nicht mehr gut genährt, und sie waren auch nicht mehr gut angezogen, obwohl es Mira immer wieder gelang, irgendwelche Kleidungsstücke zu ergattern, die sie dann unter oder über ihre eigenen Sachen anzog und nach Hause brachte. Organisieren gehörte zu den Fertigkeiten, die man in Theresienstadt lernte, und Mira erwies sich dabei als besonders geschickt. Sie hielt Hanna nun auch die beiden Unterhosen hin, die sie ihr mitgebracht hatte. Hanna lächelte verlegen, als sie die Sachen in ihren Rucksack packte. Sie hatte die beunruhigende Vorstellung, nicht zu wissen, was von ihr erwartet wurde. Als hätte sie etwas Wichtiges vergessen.
Erst abends, als sie neben Mira auf der Pritsche lag und die Wärme der Freundin spürte und unter sich Rachel und Rosa wusste und über sich Bella, hatte Hanna wieder das Gefühl, da zu sein, wo sie hingehörte, zu Hause. Sie seufzte erleichtert.
Mira drehte sich auf die Seite, stützte den Kopf auf die Hand und schaute Hanna an. »Was ist mit diesem Marek?«, fragte sie leise.
Hanna zögerte, dann sagte sie: »Er ist mein Freund.«
»Bist du in ihn verliebt?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Hanna. Und nach einer Weile fügte sie hinzu: »Ja, ich glaube schon.«
Mira strich ihr über die Haare. »Nutze es aus«, sagte sie. »Wer weiß, was uns noch bevorsteht. Du bist neunzehn Jahre alt, Hanna, ein bisschen Flirten steht dir zu.«
Hanna verzog das Gesicht. »Flirten in Theresienstadt?«
»Ja«, sagte Mira, »ja, verdammt noch mal, Flirten in Theresienstadt.«
Vorläufig ließ Mira nicht zu, dass Hanna arbeitete, sie müsse sich erst noch erholen, sagte sie. Hanna fügte sich, aber die vielen Stunden, die sie, wenn ihre Freundinnen bei der Arbeit waren, allein auf der Pritsche lag und wartete, zogen sich unerträglich in die Länge. Ihre einzige Abwechslung war, dass Marek manchmal vorbeischaute. Sie freute sich sehr, ihn zu sehen, abgesehen davon, dass er ihr immer eine Kleinigkeit zu essen mitbrachte, ein Stück Brot, eine gekochte Kartoffel, aber sehr viel Zeit hatte er natürlich auch nicht, nach ein paar Minuten musste er wieder zum Krankenhaus zurück.
Der Tag der Opernaufführung rückte näher. Marek hatte auch Hannas Freundinnen eingeladen und alle hatten die Einladung begeistert angenommen. Besonders Rosa blühte bei der Vorstellung auf, eine Oper zu besuchen. »Ich bin früher, zu Hause, oft mit meinen Eltern in der Oper gewesen«, erzählte sie. »Und später, als Opern und Konzerte für Juden verboten waren, hat mein Vater bei einem deutschen Kollegen ein Grammophon versteckt und wir haben uns dort manchmal Opern anhören dürfen.«
Meine Mutter hat zu mir nie über Opern oder Konzerte gesprochen, dachte Hanna, auch nie über Theater oder über Bücher. Es gab so vieles, was sie nicht wusste, weil ihre Mutter nichts davon gewusst hatte. Das machte sie traurig, als wäre es, zumindest für ihre Mutter, ein nicht wiedergutzumachendes Versäumnis, als hätte das Schicksal ihr etwas vorenthalten.
Alle fünf bereiteten sie sich auf das große Ereignis vor, sie hatten ihre Kleider gewaschen und ausgebessert, und Marek brachte ihnen eine Verbandsschere aus dem Krankenhaus, weil sie sich die Haare schneiden wollten. Rachel und Bella hatten beschlossen, endgültig auf ihre Zöpfe zu verzichten, nicht nur wegen der Bequemlichkeit, sondern vor allem wegen der Läuse, gegen die sie hier immer wieder vergeblich ankämpften. Auch das hatte ihnen Gerda vorausgesagt. »Das Ungeziefer gehört zu Theresienstadt.«
Beim Haareschneiden kicherten sie wie früher bei ihren Treffen im Zentrum. Rosa war die beste Friseurin, sie schnitt geschickt und ohne jedes Zögern eine Strähne nach der anderen ab. Hanna betrachtete die Köpfe ihrer Freundinnen, und das Passbild fiel ihr ein, das Helene aus Palästina geschickt hatte. »Schade, dass es hier keinen Fotografen gibt«, sagte sie. »Aber vielleicht ist das ja besser so.« Sie fuhr sich über den Kopf. Ihre Haare waren besonders kurz geworden.
»Du siehst aus wie ein struppiger Hund«, sagte Mira. »Wie ein hübscher struppiger Hund.«
Am Sonntag machten sie sich auf den Weg zur Dresdener Kaserne. Auch Ursula war da, Marek hatte sie aus dem Krankenhaus geschmuggelt, obwohl sie noch nicht ganz gesund war. Sie hatte sich ein
Weitere Kostenlose Bücher