Ein Buch für Hanna
hineinschlüpfte, stellte sie erschrocken fest, wie weit er ihr geworden war. Bei ihrer Ankunft in Theresienstadt hatten sich die Knöpfe kaum mehr schließen lassen, jetzt schlotterte der Stoff um ihren Körper.
Sie verabschiedete sich von Ursula, von Marek, den Pflegerinnen und Doktor Sigel, dann trat sie mit Mira hinaus auf die Straße, auf der es wie immer von Männern, Frauen und Kindern wimmelte. Ein aufgestocherter Ameisenhaufen, dachte Hanna und versuchte vergeblich, Berührungen auszuweichen. Sie zuckte jedes Mal zusammen, wenn jemand sie anstieß, und am liebsten hätte sie nach Mira gegriffen, schutzsuchend, wie ein kleines Kind nach der Hand seiner Mutter greift.
Alles war ihr so fremd geworden. Und das Gefühl der Fremdheit verstärkte sich noch, als sie die Kaserne und ihren Saal betraten, ihre Ubikation, wie manche Theresienstädter es nannten, ein Wort, das Hanna im Krankenhaus aufgeschnappt hatte. Die Frauen von den Nachbarpritschen kannte sie nicht, sie waren neu. Hanna musste nicht fragen, sie verstand sofort, dass es in der Zwischenzeit Transporte gegeben hatte, Frauen waren weggeschickt worden, andere hatten ihre Plätze eingenommen. Neun Wochen waren eine lange Zeit an einem Ort wie Theresienstadt.
Aber auch ihre Freundinnen waren Hanna fremd geworden, so fremd, wie sie ihr früher gewesen waren, in Ahrensdorf und auch noch in Dänemark, fremde Mädchen, mit denen sie das Schicksal zusammengebracht hatte und mit denen sie sich wohl oder übel arrangieren musste. Bei Bella fiel es ihr besonders auf, im ersten Moment erkannte sie sie gar nicht. Das lag wohl an ihrer neuen Brille, das schwarze Gestell war viel zu groß und zu schwer für Bellas schmal gewordenes Gesicht. »Mira hat mir die Brille aus der Geniekaserne mitgebracht«, erklärte sie, als sie Hannas erstaunten Blick sah. »Sie hat einem alten Mann gehört, der gestorben ist.« Sie nahm die Brille ab, betrachtete sie zärtlich, setzte sie wieder auf. »Meine alte war ein bisschen stärker, aber das ist nicht schlimm, immerhin kann ich jetzt wieder was sehen.«
Dann trat Rachel vor. Hanna erschrak. Die Freundin hatte eine verkrümmte, zum Hals gezogene Schulter, ihr linker Arm hing seltsam verdreht herunter. Mitleid stieg in Hanna auf und ließ die Distanz verschwinden, die sie so oft empfand, sie nahm Rachel in die Arme und küsste sie. »Kannst du ihn bewegen?«, fragte sie und berührte mit einer scheuen Bewegung den verdrehten Arm.
Rachel nickte. »Es geht so.« Sie hob den Unterarm leicht an. »Ich kann sogar die Hand bewegen, allerdings nicht so gut wie die rechte. Aber ich habe keine Kraft mehr.«
Hanna betrachtete die schmalen, langfingrigen Hände, von denen Schula einmal gesagt hatte, es seien die Hände einer Pianistin. Die linke Hand war abgeknickt, die Finger bewegten sich seltsam starr und ließen sich nicht mehr zur Faust schließen.
»Tut es noch weh?«, fragte Hanna.
Rachel schüttelte den Kopf. »Nein, nur manchmal, wenn ich mich anstrenge.« Sie berührte ihre schiefe Schulter, strich mit den Fingern der rechten Hand über den verdrehten Arm. Hanna, überwältigt von Mitleid, musste schlucken.
Mira schob sich dazwischen. »Ich arbeite jetzt in der Küche«, sagte sie, »und ich habe dir zur Begrüßung etwas mitgebracht.« Sie hob ihren Strohsack an, holte zwei zusammengeklappte Brotscheiben heraus und hielt sie Hanna hin. »Mit Margarine und Marmelade«, sagte sie stolz.
Hanna war klar, dass Mira das Geschenk aus der Küche geschmuggelt hatte. »Das solltest du nicht tun«, sagte sie erschrocken. »Das ist viel zu gefährlich.« Sie biss in das Brot und ließ auch die anderen abbeißen.
Mira zuckte mit den Schultern. »Nur ein Mal«, sagte sie. »Schließlich passiert es nicht jeden Tag, dass die beste Freundin aus dem Krankenhaus entlassen wird.«
Ein Arbeitsplatz in einer Küche war der Traum eines jeden Häftlings. Dort wurde für Tausende von Menschen gekocht, und man konnte den einen oder anderen zusätzlichen Bissen erwischen, wenn die Wachleute nicht hersahen. Essen hinauszuschmuggeln war allerdings äußerst gefährlich, denn alle, die in der Küche angestellt waren, mussten beim Verlassen ihres Arbeitsplatzes mehr oder weniger regelmäßig eine Leibesvisitation über sich ergehen lassen.
»Wie dünn du geworden bist«, rief Rachel erschrocken, als Hanna ihren Mantel auszog.
Hanna verkniff es sich zu sagen, dass auch die anderen dünn geworden waren. Gerda fiel ihr ein, der drohende Unterton in
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