Ein Buch für Hanna
– das waren die Worte, die sie für Theresienstadt benutzten, Worte, die alles und nichts bedeuteten.
In diesem Frühjahr tauchten seltsame Gerüchte auf. Die Nazis wollten einer Delegation des Internationalen Roten Kreuzes gestatten, ein Lager zu besichtigen, hieß es, und sie hätten Theresienstadt dazu ausgewählt. »Jemand hat gesagt, sie wollen sogar einen Film über das Ghetto machen, um der Welt zu beweisen, dass es hier gar nicht so schlimm ist«, sagte Hanna, als sie mit Doktor Sigel und Marek zusammen in ihrer Ubikation saß und Lindenblütentee trank. »Wie soll das denn gehen, ein Film über das Ghetto?«
Doktor Sigel stellte seine Tasse hin. »Theresienstadt ist kein Ghetto«, sagte er. »Lasst euch nicht einlullen. Seit dem Zeitalter der Aufklärung waren Ghettos Orte, an denen die Juden freiwillig zusammenlebten, egal wie schlecht die Bedingungen sein mochten. Aber wir sind nicht freiwillig hier.«
»Meine Mutter ist in Polen aufgewachsen, in einem schtetl «, sagte Hanna. »Dort haben auch nur Juden gelebt, wie in einem Ghetto.«
»Diese schtetlech könnte man durchaus als Ghettos bezeichnen«, sagte Doktor Sigel. »Aber dass die Deutschen Theresienstadt ein Ghetto nennen, ist hinterhältig und irreführend. Sind wir etwa freiwillig hier? Können wir Bücher bestellen, Zeitungen lesen, Radio hören? Wir wissen nicht, was draußen los ist. Können wir Theresienstadt verlassen, wenn wir das wollen? Doch nur mit Transporten in den Osten. Und die Angst vor Transporten hängt wie ein Damoklesschwert über uns. Nein, Theresienstadt ist kein Ghetto, es ist ein Lager, ein Gefangenenlager, und wir sind die Gefangenen.«
Von da an benutzte Hanna nie mehr das Wort Ghetto, wenn sie Theresienstadt meinte.
Immer häufiger wurde jetzt über den geplanten Besuch der Delegation des Roten Kreuzes gesprochen, angeblich wurden die seltsamsten Vorbereitungen getroffen. Zunächst wurde jedoch die Zahl der Transporte noch einmal erhöht. »Über siebentausend Menschen sollen in den Osten deportiert worden sein, nach Auschwitz, sagt man«, berichtete Mira bedrückt, als sie aus der Küche zurückkam. Sie hatte es von jemandem gehört, der beim Ältestenrat arbeitete. Nach diesen Transporten war das Lager zwar immer noch überfüllt, aber man hatte nicht mehr das Gefühl, ständig über Lebende oder Tote zu stolpern.
Und nun fing ein seltsames Treiben an. Ein paar Straßen im Zentrum wurden gesäubert, die Fassaden der Häuser gestrichen und die Bewohner früherer Geschäfte wurden umquartiert. Die Gerüchteküche kochte. Es solle ein Kabarett geben, hieß es, man würde Geschäfte einrichten und so tun, als könne man hier einfach in einen Laden gehen und etwas kaufen. Angeblich wurden auch einzelne Wohnungen zum Vorzeigen gestrichen und möbliert, und Häftlinge wurden ausgewählt, um diese Wohnungen zu beziehen. Sogar die Kinder wurden eingespannt. Man würde ihnen beibringen, wo sie sich hinstellen und was sie sagen sollten, hieß es. Und all die Glücklichen, die an diesem Theater beteiligt wären, würden jetzt schon mit Zusatzrationen herausgefüttert.
Hanna und ihre Freundinnen glaubten es zuerst nicht, sie kannten keinen der Beteiligten. Mira und Hanna zogen los, um herauszufinden, was an den Gerüchten dran war. Und dann sahen sie mit eigenen Augen, dass ein Kaffeehaus eingerichtet wurde, mit Tischen und Stühlen, und dass an den neu gestrichenen Häuserfassaden Straßenschilder angebracht wurden. Hanna entdeckte sogar ein Hinweisschild zu einer Schule, die es natürlich nicht gab, und zu einem ebenso wenig existierenden Spielplatz. »Ich hab’s für Latrinengeschwätz gehalten«, sagte Mira verblüfft. »Aber es ist tatsächlich so. Hast du es geglaubt?«
Hanna schüttelte den Kopf. Nichts war, wie es zu sein schien. Das Gefühl der Unwirklichkeit, das sie seit ihrer Krankheit empfand, schlug über ihr zusammen.
Am 23. Juni 1944 wurde allen, die nichts mit der inszenierten und gut geprobten Vorführung zu tun hatten, verboten, ihre Quartiere zu verlassen. Es war der Tag, an dem der Besuch der Rot-Kreuz-Delegation stattfinden sollte.
Die Delegation kam und blieb einige Stunden lang in Theresienstadt, Stunden, in denen Hanna und ihre Freundinnen untätig auf einer Pritsche saßen und warteten. »Die Leute vom Roten Kreuz müssen doch einfach merken, was hier los ist, die Deutschen können es doch nicht schaffen, allen etwas vorzumachen«, sagte Mira und fügte hoffnungsvoll hinzu: »Sie werden es
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