Ein Buch für Hanna
Tuch vor das Gesicht gebunden, als Schutz gegen eine Infektion, und erklärte vergnügt, für sie sei heute Karneval und sie spiele einen Piraten. Dicht zusammengedrängt standen sie auf dem Dachboden, auf dem die Aufführung stattfinden sollte. Vorn war eine erhöhte Plattform als Bühne, davor standen sogar ein paar Stühle für die Ehrengäste und für alte Leute, die nicht mehr stehen konnten. Hinter der Bühne erhoben sich in einem Halbkreis die gemalten Kulissen, die Häuser eines Marktplatzes. Hanna spürte, wie sie von der allgemeinen erwartungsvollen Aufregung angesteckt wurde. Vor allem Rosa zappelte, ihr Gesicht glühte und ihre oft so stumpfen Augen leuchteten.
Und dann ging es endlich los. Erst kam das Orchester, in dem auch Erwachsene spielten, aber die Sänger waren Kinder und Jugendliche. Als Pepíček und Aninka die Bühne betraten und anfingen zu singen, natürlich auf Tschechisch, erklärten Hanna und Ursula den andern flüsternd, worum es in der Geschichte ging, auch wenn man eigentlich die Worte gar nicht verstehen musste. Besonders Aninkas Stimme war das herzergreifende Flehen um Milch für ihre Mutter anzuhören. Und als der Milchmann die Kinder zurückwies, kapierte man sofort, dass er ein hartherziger Mann war, dem es nur um Geld ging.
Dann trat Brundibár auf und Pepíček und Aninka begannen mit ihrem Duett. »Jetzt singen sie von der Gans, die weggeflogen ist«, sagte Ursula glücklich und summte leise mit. Doch als der böse Brundibár die Kinder bedrohte, ballte sie die Fäuste, als wolle sie auf ihn losgehen. Hanna, die neben ihr stand, legte den Arm um sie und zog sie an sich. Ursula entspannte sich erst, als die Tiere auftraten. Bei Mareks Lied wurde sie ganz weich. »Gut, ich sehe, ihr versteht, dass es nicht alleine geht«, flüsterte sie und drückte Hannas Arm so fest, dass es ihr wehtat. Und beim Schlusschor fing sie an zu hopsen wie ein Kind, das sie ja fast noch war.
Nach der Vorstellung brachten Hanna und Marek das Mädchen zurück ins Krankenhaus. Ursula war so aufgeregt, dass sie ununterbrochen reden musste. »Es geht nicht allein, nicht wahr, Marek? Nur gemeinsam sind wir stark, nur gemeinsam werden wir das Böse besiegen.«
»Ja«, sagte Marek, »das ist es, was uns die Oper sagen will.«
Einen Moment lang blieb es still, dann fragte Ursula: »Alle haben bei Brundibár an Hitler gedacht, nicht wahr?«
»Hitler oder Brundibár«, sagte Marek, »das ist egal. Pepíček und Aninka sind die Juden, und der Spatz, die Katze, der Hund und die anderen Kinder, die ihnen helfen, sind wie die Alliierten, die gegen Hitler kämpfen.«
»Hitler oder Brundibár, das ist egal«, wiederholte Ursula leise. »Nur gemeinsam werden wir ihn besiegen. Nehmt euch bei der Hand und knüpft das Freundschaftsband .«
Eine Pflegerin, die eingeweiht war, nahm Ursula an der Tür in Empfang. Dann begleitete Marek Hanna nach Hause. Die Straße war leer, es war schon Ausgangssperre, deshalb schlichen sie durch Höfe und Maueröffnungen. Plötzlich blieben sie stehen und küssten sich. So ist das also, dachte Hanna überrascht, so fühlt es sich an, und dann hörte sie auf zu denken und gab sich diesem neuen Gefühl hin. Sie küssten sich lange, sehr lange, bis Hanna Marek von sich schob.
»Du bist doch nicht böse?«, fragte er erschrocken.
»Böse?« Hanna musste lachen, sie konnte sich nicht erinnern, je so gelacht zu haben. Marek starrte sie an, als wäre sie verrückt geworden, doch dann verzogen sich seine Lippen und er lachte auch. Hand in Hand gingen sie weiter. »Ich war heute Abend verdammt stolz auf dich«, sagte Hanna.
Kurz darauf fing Hanna wieder an zu arbeiten. Sie war erleichtert, dass die Langeweile ein Ende hatte. Die Blockälteste hatte mit Rücksicht auf Hannas überstandene Krankheit dafür gesorgt, dass sie der zentralen Kleiderkammer zugeteilt wurde, wo auch Rachel arbeitete, weil sie wegen ihres Arms nicht mehr putzen konnte. In der Kleiderkammer wurde das von den Häftlingen konfiszierte Gepäck sortiert, die guten Sachen sollten nach Deutschland geschickt werden, die schlechten blieben in Theresienstadt.
Die Arbeit war nicht schwer, zumindest körperlich nicht. Hanna konnte sich sogar um Rachel kümmern und ihr helfen, wenn ein Packen von einem Platz zu einem anderen getragen werden musste. Trotzdem fand sie die Arbeit in der Kleiderkammer schlimmer als Latrinenputzen. Immer wieder musste sie gegen den Gedanken ankämpfen, wem dieses oder jenes Kleidungsstück wohl
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