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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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gehört hatte und was mit seinem Besitzer oder seiner Besitzerin passiert war. Besonders schlimm war es, wenn sie Kinderkleidung in den Händen hielt. Sogar Windeln waren in dem Gepäck, sie gehörten auf den Stapel, der für Deutschland bestimmt war, und Hanna konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob die jüdischen Kinder, deren Mütter die Windeln eingepackt hatten, sie jetzt vielleicht schon nicht mehr brauchten.
    Wenn Marek frei hatte, holte er Hanna oft zu einem Spaziergang ab. »Falls man das überhaupt spazieren gehen nennen kann«, sagte Hanna. »Wir quetschen uns doch nur zwischen den anderen hindurch.« Aber immerhin waren sie zusammen und konnten sich an den Händen halten. Und sie waren findig, entdeckten immer wieder verborgene Ecken, saßen im Schatten eines Walls, drückten sich in Torbögen und hinter Mauervorsprünge und fanden viele Möglichkeiten, allein zu sein und sich zu küssen. Es war wie ein Rausch. Hanna hatte das Gefühl, nur noch für diese Treffen zu leben, alles, was dazwischen geschah, verlor an Bedeutung, sogar der Hunger war nicht mehr so nagend. Es war, als würde die Sehnsucht nach Marek, nach diesen neuen, überwältigenden Gefühlen, alles andere verdrängen.
    Doch dann schlug das Wetter um, es fing an zu regnen, ein Landregen, der gar nicht mehr aufhören wollte. Auf den Straßen bildeten sich Pfützen und auf den ungepflasterten Wegen und Plätzen versank man im Schlamm. Hanna und Marek konnten nicht mehr durch die Straßen spazieren und die Wege entlang der Wälle und der Kasematten waren unbegehbar geworden. Sie verbrachten ihre freie Zeit nun oft in dem Kellerverschlag, den Marek mit seinem Vater bewohnte und den sie Ubikation nannten. Obwohl Doktor Sigel ein freundlicher Mann war, wäre Hanna lieber mit Marek allein gewesen, sie fühlte sich in der Gesellschaft seines Vaters unbehaglich, gehemmt. Für ihren Geschmack stellte er zu viele Fragen. Einmal erkundigte er sich nach ihrer Familie, nach ihrem Leben in Leipzig. Hanna erschrak. Wie sollte sie ihre Mutter beschreiben, wie die armselige Wohnung, nachdem Marek so viel Wunderbares von seinem Leben in Prag erzählt hatte? Stotternd und ausweichend sagte sie, ihr Vater sei gestorben, als sie fünf war, und ihre Mutter habe ihre Schwester und sie mit Näharbeiten durchgebracht.
    Doktor Sigel schaute sie lange an, dann streckte er die Hand aus und berührte ihren Arm. »Nimm es einem alten Mann nicht übel, Hanna, wenn er zu viele Fragen stellt. Hier erfährt man so wenig Neues, da wird man vermutlich aus lauter Neugier ein bisschen aufdringlich.«
    Vielleicht war es seine Stimme, die so weich und beruhigend klang, wie Bentes Stimme in jener Nacht geklungen hatte. Vielleicht auch seine Berührung, die so tröstlich war wie Bentes damals. Jedenfalls war es, als löse sich ein Knoten in Hannas Hals. Sie fing an zu erzählen, von ihrer Mutter, von ihrer Schwester Helene, die jetzt Lea hieß und in Palästina lebte, von Dänemark, den Goldes, von Jesper und Marie Sørensen, von der Werkstatt und der Arbeit mit Ton, vom Lindenhof und von Bente, vor allem von Bente, um dann wieder von ihrer Mutter anzufangen.
    Doktor Sigel legte den Arm um sie. »Ach, Kind«, sagte er, »das Leben ist nicht gerade sanft mit dir umgegangen. Du bist ganz schön mutig.«
    »Mutig?«, fragte Hanna erstaunt und dann fing sie an zu weinen.
    Als sie an diesem Abend auf der Pritsche lag, neben Mira, fühlte sie sich leer und trotzdem seltsam getröstet.
    Dann, nach dem wochenlangen Regen, kam der Frühling. Auf den Kasematten wuchs das Gras und war so grün, wie junges Gras sein soll. Und an manchen Tagen war der Himmel so blau und durchsichtig, dass er die Welt um sie herum in ein anderes Licht tauchte. Es war ein wunderbarer Frühling, trotz der Arbeit, trotz des Hungers und des Ungeziefers, das mit dem warmen Wetter wieder zunahm.
    Hanna bewegte sich wie im Traum. Sie hatte nicht nur das Gefühl, aus zwei Personen zu bestehen, deren Grenzen ineinander übergingen, sondern auch in zwei Welten zu leben, von denen die eine so unwirklich und unverständlich war wie die andere. Das Gefühl der Unwirklichkeit ließ sie nicht los, auch nicht, wenn sie mit Marek auf einem Wall saß und das Gras spürte, das grün und frisch war und dennoch etwas Unwirkliches hatte. Besonders stark war dieses Gefühl, wenn Marek und sie sich an den Händen hielten und sich vorstellten, was sie alles tun würden, wenn das hier vorbei wäre. Das hier, dieser Wahnsinn, diese Hölle

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