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Ein Bündel Geschichten für lüsterne Leser

Ein Bündel Geschichten für lüsterne Leser

Titel: Ein Bündel Geschichten für lüsterne Leser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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»Halten Sie mich nicht für dumm«, sagte er. Er lächelte sogar. »Ich mache keinen Spaß. Ich bin ein alter Mann. Sehen Sie mein weißes Haar? Was haben Sie mit dem Koffer gemacht? Wo ist das Mädchen?«
    »Mister, damit es ein für allemal klar ist!« Der Barkeeper zog seine Hand weg. »Ich habe Ihren verdammten
    Koffer nicht gesehen. Und Mädchen arbeiten hier nicht. Wenn man sie beklaut hat, ist das Ihre Angelegenheit und nicht meine.«
    »Du Lügner!«
    Beggs ging auf ihn zu. Es war kein Angriff; seine Arme waren bittend und nicht drohend ausgebreitet. Er brüllte den Mann an, der jedoch verächtlich zurückwich. Er folgte ihm, und der Mann drehte sich um und sagte irgendetwas Gemeines.
    Dann fing Beggs an zu schluchzen, und der Barkeeper seufzte verdrossen und sagte: »Das reicht – jetzt ist Schluß.« Er packte Beggs‘ Arm und schob ihn in Richtung Tür. Unterwegs nahm er den Mantel vom Haken und warf ihn Beggs über die Schulter. Beggs brüllte, blieb jedoch nicht stehen. An der Tür versetzte ihm der Barkeeper noch einen Schubs, so dass Beggs plötzlich auf der Straße stand. Hinter ihm wurde die Tür zugeknallt und verriegelt, und Beggs schlug mit der Faust dagegen, aber nur ein einziges Mal.
    Er stand auf dem Bürgersteig und zog seinen Mantel an. In der Tasche waren noch Zigaretten, aber völlig zerdrückt und nicht mehr zu rauchen. Er warf das zerknitterte Päckchen in den Rinnstein.
    Dann ging er.
    An die Treppe konnte er sich noch erinnern. Insgesamt waren es drei Treppen, die ihm nichts ausgemacht hatten, als er jung und frisch verheiratet gewesen war und Edith oben auf ihn wartete. Steiler waren sie allerdings, wenn er nach einem Tag ohne Arbeit bei Mike getrunken hatte. Jetzt waren sie ein endloser, ein hölzerner Mount Everest. Er schnaufte, als er vor der Wohnungstür stand.
    Er klopfte, und nach kurzer Zeit öffnete eine Frau, die Ediths Mutter hätte sein können, die Tür. Aber es war Edith selbst. Sie starrte ihn an und strich sich die gelbgrauen Haarsträhnen aus dem Gesicht; eine knochige Hand drehte an dem herabhängenden Knopf des fleckigen Morgenmantels. Er war nicht sicher, ob sie ihn erkannte und sagte deshalb: »Ich bin Harry, Edith.«
    »Harry?«
    »Es ist schon spät«, murmelte er. »Es tut mir leid, dass ich so spät komme. Sie haben mich heute freigelassen. Darf ich vielleicht reinkommen?«
    »O mein Gott«, sagte Edith und schlug die Hände vor das Gesicht. Fast dreißig Sekunden lang bewegte sie sich nicht. Er wusste nicht, ob er sie anrühren sollte oder nicht. Unruhig trat er von einem Fuß auf den anderen und fuhr sich mit der Zunge über die ausgetrockneten Lippen.
    »Ich habe fürchterlichen Durst«, sagte er. »Könnte ich vielleicht ein Glas Wasser haben?«
    Sie ließ ihn in die Wohnung. Das Zimmer lag im Dunkeln. Seine Frau knipste die Tischlampe an. Dann ging sie in die Küche und kam mit einem Glas Wasser zurück. Sie reichte es ihm und er setzte sich, bevor er trank.
    Als er ihr das leere Glas zurückgab, lächelte er schüchtern und sagte:
    »Danke. War ich vielleicht verdurstet!«
    »Und was willst du, Harry?«
    »Nichts«, sagte er ruhig. »Nur ein Glas Wasser. Mehr kann ich von dir wohl auch nicht erwarten, nicht?«
    Sie entfernte sich von ihm und strich sich dabei über das Haar. »Mein Gott, sehe ich schrecklich aus. Warum konntest du mir nicht vorher Bescheid geben?«
    »Es tut mir leid, Edith«, sagte er. »Aber jetzt gehe ich wohl lieber.«
    »Wohin?«
    »Keine Ahnung«, sagte Beggs. »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.«
    »Hast du niemanden, wo du hingehen kannst?«
    »Nein.«
    Sie brachte das leere Glas in die Küche und kam dann wieder zurück. In der Tür blieb sie stehen, verschränkte die Arme und lehnte sich gegen den Rahmen.
    »Du kannst hierbleiben«, sagte sie einfach. »Wenn du nicht weißt, wo du hinsollst, kann ich dich nicht wegschicken. Das könnte ich nicht einmal bei einem Hund. Du kannst auf der Couch schlafen. Willst du?«
    Er strich mit der Handfläche über das Kissen.
    »Diese Couch«, sagte er langsam. »Ich schlafe lieber auf dieser Couch als in einem Palast.« Er sah sie an, und sie weinte. »Ach, Edith«, sagte er.
    »Kümmere dich nicht um mich!«
    Er erhob sich und trat zu ihr. Dann legte er seine Arme um sie.
    »Einverstanden, wenn ich bleibe? Ich meine nicht nur heute nacht?«
    Sie nickte.
    Beggs preßte sie an sich, und es war die Umarmung eines jungen Liebhabers. Edith musste gemerkt haben, wie komisch es wirkte,

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