Ein Bündel Geschichten für lüsterne Leser
Schritt, noch einmal vor. Er blutete für sie. Er preßte die Hände gegen den Leib. Er stellte die Mutter des Toten in den Zeugenstand. Zehn Minuten lang, in denen es nur um belanglose Dinge ging, ließ er sie weinen, bis selbst Judge Dwight das Schauspiel zuviel wurde. Aber es hatte Erfolg. Vernon, mit seiner langen Gerichtserfahrung, wusste, dass es Erfolg hatte.
Die Verhandlung war nahezu abgeschlossen. Wickers, der mit dem Messer unter der Nase von Benjy Blesker herumfuchtelte, entlockte dem Angeklagten das Eingeständnis, dass das Messer ihm gehöre, dass er es immer bei sich getragen hätte und es in der Mordnacht mit Sicherheit in der Tasche, vielleicht aber auch in der Hand gehabt hatte. Damit hatte Wickers seine Schlussszene mit Glorie gespielt; er setzte sich, da die Staatsanwaltschaft den Fall abgeschlossen hatte.
Noch ein einziger Tag, und alles war erledigt.
Vor der Fortsetzung der Verhandlung kam ein Wochenende. Vernon Wedge verbrachte die Zeit mit Nachdenken.
Schuld hatte allein der alte Mann, überlegte er verbittert. Der alte Blesker war es, der hinter sämtlichen Schwierigkeiten steckte. Sein Vertrauen in Benjy war der uneinsichtige und hartnäckige Glaube eines Fanatikers. Selbst wenn der Junge schuldig war, würde er es aus Rücksicht auf – seinen Vater niemals zugeben.
»Komisch ist dabei«, sagte er zu Olga, seiner Sekretärin, »dass ich selbst nicht wüsste, wie ich entscheiden sollte, wenn ich Geschworener wäre.«
Olga machte sich Sorgen.
»Sie sehen schlecht aus«, sagte sie. »Sie scheinen blutarm zu sein. Wenn diese Geschichte vorüber ist, sollten Sie zu einem Arzt gehen.«
»Wahrscheinlich am besten zu einem Psychiater.«
»Ich spreche von einem Arzt«, sagte Olga fest.
In diesem Augenblick wurde der Gedanke geboren. Vernon blickte seine Sekretärin sonderbar an und stand plötzlich von seinem Schreibtischstuhl auf.
»Wissen Sie – das wäre noch eine Idee. Vielleicht sollte ich tatsächlich zum Arzt gehen. Erinnern Sie sich noch an Doc Hagerty?«
»Nein.«
»Aber sicher erinnern Sie sich! Der Fall Hofstraw, 1958...«
»Ich meinte allerdings eine ganz andere Art von Arzt. Einen guten praktischen Arzt.«
»Ich gehe jetzt«, sagte Vernon plötzlich. »Falls Sie mich brauchen – ich bin im Dugan-Hospital. Aber rufen Sie dort nur an, wenn es dringend ist.«
Er fand Hagerty im Laboratorium des Krankenhauses, das im Kellergeschoß lag. Olga hatte vollkommen recht: Hagerty war kein praktischer Arzt, der die Brust abhorchte und sich die Zunge zeigen ließ; er war weniger Arzt als vielmehr Biochemiker. Aber genau das war es, was Vernon brauchte.
Hagerty war ein weißhaariger Mann, dessen Rücken sich im Laufe der Jahre, in denen er gebückt vor Mikroskopen gesessen hatte, langsam gekrümmt hatte, und außerdem roch er leicht nach Schwefel. Wie sich herausstellte, hatte er von dem Prozess nicht die geringste Ahnung. Vernon fasste die Tatsachen kurz zusammen und kam dann zum Thema ›Blut‹
»Wollen Sie damit sagen, dass keine Benzidin-Untersuchung durchgeführt wurde?« fragte Hagerty sofort. »An der Mordwaffe?«
»Doch«, gab Vernon zu, »und das Resultat war negativ. An dem Messer befanden sich keine Blutspuren, verstehen Sie. Es war völlig sauber. Die Anklage behauptet nun, dass sämtliche Spuren abgewischt oder abgewaschen wurden. Bisher hat dieser Punkt noch keine größere Rolle gespielt. Ich hörte jedoch einmal, wie Sie über einen gründlicheren Versuch als den mit Benzidin sprachen...«
»Den gibt es«, grunzte Hagerty. »Die übliche Untersuchung auf Blutspuren wird in dieser Stadt mit Benzidin durchgeführt, aber es gibt noch eine andere Methode. Sie ist meiner Ansicht nach erheblich genauer, wird jedoch nicht immer angewendet. Bezeichnet wird sie als Phenolphthalein-Untersuchung, und entsprechend einer Reihe von Faktoren könnte sie genau das sein, was Sie suchen.«
»Um welche Faktoren geht es?«
»Beispielsweise um die Eigenschaften des Metalls, aus dem die Klinge hergestellt ist. Aber selbst wenn das Metall so porös ist, dass mikroskopische Blutteilchen zurückgeblieben sind, kann man möglicherweise nicht genau feststellen, zu wem das Blut gehört. Wenn etwa der Junge sich irgendwann einmal in den Finger schnitt oder jemand anderes sich...«
»Was müssen wir dazu tun?« sagte Vernon erregt.
»Holen Sie mir das Messer.«
» Das ist unmöglich. Augenblicklich ist es vom Gericht noch beschlagnahmt.«
»Dann holen Sie mir ein halbes Dutzend Messer
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