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Ein Bündel Geschichten für lüsterne Leser

Ein Bündel Geschichten für lüsterne Leser

Titel: Ein Bündel Geschichten für lüsterne Leser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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anwesend, nicht wahr?«
    »Das stimmt«, sagte Dankers bedächtig. Er war ein schweratmender, bebrillter Mann mit rotgeäderter Nase. »Ich saß auf der Treppe, als diese Jungen anfingen, sich zu prügeln. Und dann weiß ich nur noch, dass einer der Burschen zur Treppe taumelte und wie ein Schwein blutete. Unmittelbar vor mir und meiner Frau fiel er dann tot hin. Eine Stunde brauchte ich, um die Blutflecken von meinen Schuhen wegzukriegen.«
    »Mehr haben Sie nicht gesehen?«
    »Nein, Sir. Ich habe den Burschen gesehen, den da drüben, wie er mit einem Messer in der Hand wegrannte.«
    Dann war Vernon an der Reihe.
    » Mr. Dankers, stimmt es, dass Ihre Sehkraft gemindert ist ?«
    »Allerdings. Ich bin zweiundsechzig, mein Sohn – warten Sie nur, bis Sie einmal so alt sind wie ich.«
    Er erregte Gelächter bei den Zuschauern und wurde zur Ordnung gerufen.
    »Es war fast Mitternacht und die Straße ist nicht gerade gut beleuchtet. Trotzdem sahen Sie ein Messer...« Vernon zeigte zu dem Tisch, auf dem Beweisstück A lag. »Jenes Messer, in der Hand von Benjamin Blesker?«
    »Es funkelte im Licht, wenn Sie wissen, was ich damit meine. Aber um die Wahrheit zu sagen: Wahrscheinlich wäre es mir gar nicht aufgefallen, wenn meine Frau nicht gesagt hätte: Sieh mal den Burschen, der hat ein Messer in der Hand!«
    Die Zuhörer wurden unruhig, und Vernon bedachte diese Aussage, die aus zweiter Hand stammte, mit einem Stirnrunzeln. Aber der Schaden war nicht mehr zu beheben; Vernon machte sich nicht einmal mehr die Mühe, sich zu beschweren.
    Als nächstes sagte Mrs. Dankers aus; mit ihrem Sehvermögen sei alles in Ordnung, sagte sie nachdrücklich, und immerhin könne sie ein Messer erkennen, wenn sie es sehe. Doch der dritte Zeuge war es, der den größten Schaden anrichtete. Es war Marty Knapp, ein von seinem Beruf besessener Jugendfürsorger, der in dieser Gegend arbeitete.
    »Nein, Benjy ist kein schlechter Kerl«, sagte er nachdenklich. »Aber er ist unberechenbar. Und er hat Kenny Tarcher die Prügel, die er von ihm bezogen hat, nie vergessen.«
    »Ihrer Ansicht nach bestünde also die Möglichkeit«, sagte Wickers triumphierend, »dass es sich hier um einen Mord aus Rache handelt? Nicht um eine plötzliche Schlägerei und einen nicht geplanten Angriff, sondern um vorsätzlichen, kaltblütigen...«
    Vernon war aufgesprungen und legte mit lauter Stimme Einspruch ein. Judge Dwight stellte sich sofort auf seine Seite, aber der Eindruck auf die kollektive Ansicht der Geschworenen war nicht mehr auszulöschen. Als Vernon sich wieder hinsetzte, fühlte er sich genauso verloren, wie Benjy Blesker aussah.
    Am Abend des vierten Tages suchte er Benjy auf.
    »Was sagst du nun, Benjy?« fragte er ruhig. »Siehst du jetzt, wie die Dinge laufen? Ich spiele sämtliche Tricks aus, die ich kenne, und mache doch niemandem etwas vor.«
    »Strengen Sie sich mehr an!« fauchte Benjy.
    »Wenn ich wüsste, wie man Wunder tut, würde ich eines vollbringen. Weißt du – dieser Staat hängt Kinder nicht gern; aber passiert ist es schon...«
    »Hängen?« sagte der Junge ungläubig. »Sie sind verrückt!«
    »Selbst wenn du lebenslänglich bekommen solltest – weißt du eigentlich, was das bedeutet? Auch wenn man dich in zwanzig Jahren auf Bewährung entlässt, wirst du siebenunddreißig Jahre alt sein, also ein Mann in mittleren Jahren, und außerdem vorbestraft.«
    Tränen strömten Benjy aus den Augen. Sie waren das erste Anzeichen dafür, dass sein Widerstand langsam abbröckelte, und der Anwalt hakte sofort ein.
    »Bekenne dich schuldig«, sagte er ernst. »Bekenne dich schuldig, Benjy – noch ist es nicht zu spät.«
    Der Kopf des Jungen fuhr hoch. »Nein!« kreischte er. »Ich habe es nicht getan!«
    Der vierte Tag war der schlimmste. Erbarmungslos nahm Vernon sich die Zeugen der Anklage vor. Dankers bezeichnete er als schwachsichtigen trunksüchtigen Lügner. Mrs. Dankers zwang er zu dem Eingeständnis, dass sie die Kinder aus der Nachbarschaft hasste, besonders die Barons. Und von Knapp, dem Jugendfürsorger, ließ er sich jede Einzelheit über Benjys fleckenlose Vergangenheit noch einmal wiederholen. Aber während der ganzen Zeit machten die Geschworenen einen unruhigen, gelangweilten und gereizten Eindruck. Offenbar hatte das ›Charakterzeugnis‹ sie keineswegs beeindruckt; was sie interessierte, waren Tatsachen – je blutiger, desto besser.
    Wickers gab ihnen, was sie sich wünschten. Wickers führte ihnen den Mord, Schritt für

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