Ein Cottage zum Verlieben: Roman (German Edition)
Jon im wahrsten Sinne des Wortes unter die Nase.
»Hässlich«, erklärt er zum zweiten Mal. So viel hat er in meinem Unterricht noch nie gesagt, obwohl ich zugeben muss, dass es für die meisten Teilnehmer in diesem Seminar (womit ich vierzehn Schüler meine) schwierig ist, in Gegenwart von Exzentrikern wie Leon und Amy in der Gruppe auch einmal zu Wort zu kommen. Plötzlich steht Jon auf, geht zum Tisch mit dem Stillleben hinüber und nimmt sich eine grüne Tasse mit weißen Punkten. Ohne ein weiteres Wort setzt er sich wieder hin und fängt an zu zeichnen.
»Ich wette, er malt jeden einzelnen Punkt«, grölt Lizzy, als ob Jon gar nicht da sei.
»Es ist 10 Uhr 31. Pause«, erklärt Jon.
»Schneeballschlacht, Leon«, verkündet Amy. Leon schaut allerdings ein wenig verängstigt drein, als sie mit ihren klobigen schwarzen Schnallenstiefeln das Klassenzimmer durchquert. Dennoch folgt er ihr. Alle sind schon zur Tür hinaus, bevor ich überhaupt eine Chance habe zu sagen, »Ab mit euch in die Pause.«
»Möchtest du einen Kaffee in der Cafeteria trinken gehen?«, erkundigt sich Jim.
»Tut mir leid, ich habe leider zu viel zu tun«, antworte ich und eile schon in Richtung Lehrerzimmer, da ich mich durch die E-Mails einer kompletten Woche kämpfen muss.
»Warum habe ich eigentlich mitten im Schuljahr eine Klasse übernommen?«, frage ich Sue, die Oberstudienrätin, im Lehrerzimmer. Sie lächelt jedoch nur, ohne mich dabei anzusehen, und fährt fort, sich durch ihre eigenen Mails zu klicken.
»Tut mir leid, Laura, ich bin hier gerade sehr beschäftigt«, erwidert sie, schaut zu mir hoch und schenkt mir ihr elfenhaftes Lächeln. Sie ist so klein und schmal, dass man sich nur schwer vorstellen kann, dass sie den Jungs im Teenageralter tatsächlich Angst einjagt.
»Ach, es ist auch nicht weiter wichtig, ich habe nur einen anstrengenden Tag hinter mir«, antworte ich. Sofort meldet sich mein schlechtes Gewissen, da alle wissen, dass Sue morgens die Erste im Lehrerzimmer ist und auch abends als Letzte geht – und das jeden Tag.
Ich schlürfe meinen schwarzen Kaffee und fange allmählich an aufzutauen. Dabei hasse ich schwarzen Kaffee! »Bringt hier eigentlich niemand mal Milch mit?«, beschwere ich mich. Meine Worte stoßen jedoch auf taube Ohren. Alle sind intensiv damit beschäftigt, Unterrichtspläne und -entwürfe für die Lehrprobe auszudrucken.
Ich nehme den Telefonhörer zur Hand, lege aber sofort wieder auf. Eigentlich sollte ich Aaron anrufen, der schon wieder nicht beim Unterricht war. Der Junge tut mir unendlich leid, weil er sich um seinen kranken Vater kümmern muss. Ein Siebzehnjähriger sollte wirklich nicht während der Schule nach Hause laufen müssen, um seinen Vater zu waschen und ihm Essen zu machen. Theoretisch müsste ich auch Leon beim Amt für Jugendschutz melden, da er schon wieder für die derzeitigen Wetterverhältnisse vollkommen ungeeignet gekleidet im Unterricht erschienen ist. Dies soll wohl ein eindeutiges Zeichen dafür sein, dass Eltern ihre Kinder vernachlässigen. Aber immerhin ist er nicht sieben, sondern siebzehn Jahre alt, weshalb ich ihm mal glauben will, wenn er mir hoch und heilig schwört, dass er sich der Kälte nicht bewusst ist.
Ich öffne meine Mails und stoße auf unzählige Formulare, die ich ausfüllen muss. Eigentlich bräuchte ich eine eigene Sachbearbeiterin, denke ich, während ich eine weitere Beschwerde an die Campusverwaltung formuliere, dass das mobile Studio dringend ein vernünftiges Heizsystem benötigt. Wenn das Studio doch bloß tatsächlich mobil wäre und wir es in den Süden Frankreichs transportieren könnten!
Wehmütig denke ich an die Zeit zurück, als es noch keine Mails gab, und stattdessen Sekretärinnen die Projektvorhaben und die Briefe an die Schüler getippt haben. Jetzt aber bin ich Lehrerin, Sachbearbeiterin, Sekretärin und manchmal sogar auch noch psychologische Beraterin in einer Person. Mein Blick fällt auf meinen Rock aus den Fünfzigerjahren, dessen Muster aus gemütlich wirkenden Teekannen und belegten Sandwiches besteht. Das waren noch Zeiten, in denen die Menschen richtige Pausen und Teezeiten hatten. Manchmal wünsche ich mich in diese Zeiten zurück, obwohl ich zu dem Zeitpunkt noch gar nicht geboren war. Damals ist das Leben bestimmt einfacher gewesen. Andererseits hätte ich zu dieser Zeit aber sicherlich keinen Job gehabt; ich wäre wohl eher wie meine Mutter gewesen und hätte Frühstücksdosen mit grausigen Sandwiches
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