Ein Cottage zum Verlieben: Roman (German Edition)
rechteckiger Stofffetzen mit einem verkokelten Rand übrig.
Schnell laufe ich in die Küche hinunter, klettere über das Absperrband und hole auf der Suche nach einer Schere den gesamten Inhalt der Küchenschublade heraus. Mit der vagen Erkenntnis, dass ich froh sein kann, diesen beinahe wahnwitzigen Akt hier ungestört ausführen zu können, eile ich wieder hinauf. Ich schneide den Rest von Mums Tunika entzwei und rette so, was noch zu retten ist.
»Verdammt! Es ist doch immer das Gleiche!«, murmele ich vor mich hin. Ich brauche eine Schere für Linkshänder. Mit einem Mal habe ich wieder schreckliche Bilder von der »ungeschickten« Laura in der Highschool vor Augen. »Das ist aber nicht schön, du bist so unordentlich«, hat mich Mrs Dawson, meine alte Kunstlehrerin, immer getadelt. Ihr Name, der Anblick ihrer langen braunen Cordröcke und ihres Pottschnitts, der Klang ihrer Clogs, die man schon eine Meile im Voraus hören konnte – das alles hat sich tief in mein Hirn eingebrannt. Ich glaube, ich wurde nicht wegen ihr, sondern trotz ihr eine Künstlerin.
Innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde wird mir klar, dass ich endlich Neuland betreten und Nähen lernen will, um aus meinen Stoffen etwas Neues zu schaffen. Voller Stolz denke ich, dass ich Mum ein würdiges Andenken bewahre, wenn ich etwas aus meinem Erbe mache. Wie heißt das, wenn Dichter und Musiker in Gedenken an eine geliebte Person etwas schreiben oder komponieren? Ist das eine Laudatio? Eine Grabrede? Mit Stick- oder Nähstichen kann man sogar etwas schreiben. Unweigerlich muss ich an das berühmte Zelt der Künstlerin Tracy Emin denken, in das sie all die Namen ihrer Liebhaber hineingenäht hat. Die Arbeit mit Stoff kann durchaus sehr persönlich sein.
Meine Gedanken schweifen zu Chris, doch ich weiß, dass Mum, wenn sie noch leben würde, dies nicht gutheißen würde. Sie hat ihn einmal kurz kennengelernt, als sie für unsere Abschluss-Schau nach London heruntergekommen ist. Zwar hat sie mit unseren Kunstwerken nichts anfangen können, doch im Gegensatz dazu wusste sie sehr genau, wie sie Chris einschätzen sollte. Ich kann mich noch gut an ihre Worte erinnern: »Laura, es ist nicht nur sein gutes Aussehen, was mir Sorgen macht, das kommt noch zusätzlich hinzu. Er hat irgendetwas an sich; mir war sofort klar, dass du für ihn niemals die Einzige sein wirst.« All das hat Mum mit einem rätselhaften Blick in ihren Augen gesagt.
Das Problem beim Nähen ist nur, dass ich einfach nicht nähen kann. Hartnäckig hält sich das Gerücht, dass Tracy Emin und die Young British Artists andere Leute dazu bringen, ihre Kunstwerke zu schaffen. Aber wenn ich Dinge aus Stoff herstellen werde, dann will ich das auch tatsächlich selbst tun.
Wieder laufe ich hinunter, klettere über das Absperrband und betrete die Küche. In einer der Schubladen muss irgendwo das Gemeindejournal liegen. Ich bin sicher, darin eine Anzeige für einen Nähkurs gesehen zu haben. Wo kommen bloß all die Zeitungsstapel her? Wir wohnen doch erst seit einem Monat in Reedby! Ich kippe die mit Asche versehenen Inhalte der Schublade auf den Boden. Auf die Art und Weise lässt sich das Gesuchte am besten finden; so gehe ich immer vor, wenn ich etwas in meiner Handtasche nicht finden kann. Plötzlich ertönt draußen auf der Straße ein Heidenlärm. Das Geräusch ist lauter als ein Traktor und bewegt sich auf mich zu. Dann quietschen mit einem Mal Bremsen.
Schnell werfe ich einen Blick aus dem Küchenfenster und entdecke meine Besucher.
»Das ist es«, brüllt Heather der Frau zu, die einen Sportwagen mit offenem Verdeck fährt und den Konvoi anführt. Hinter ihr sitzt ein in Schweiß gebadeter, puterroter Kurt am Lenkrad eines Pick-ups. Als er rückwärts einen Wohnwagen in unsere Einfahrt bugsiert, wirkt er deutlich angespannter als in der vergangenen Nacht.
Heather kommt zu mir herübergeeilt.
»Das ist meine Schwester Charlotte.«
»Und Sie müssen Laura sein«, ergreift Charlotte das Wort mit der feinen, betonten Stimme einer Fernsehsprecherin. »Wir haben alle von dem schrecklichen Brand gehört, und Heather hat mir erzählt, dass Sie jetzt nicht wissen, wo Sie wohnen sollen. Da musste ich gleich an Harriet denken«, erklärt sie und holt aus der Tasche ihrer Wachsjacke einen Schlüsselbund hervor.
»Harriet?«, frage ich verwirrt. »Wer ist Harriet?«
»Der Wohnwagen. Wir haben darin gewohnt, während sich unser River Cottage im Bau befand. Danach habe ich es dann aber
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