Ein delikater Liebesbrief
nehmen würde? Alle behaupteten doch, dass sie selber wie durch ein Wunder überlebt habe.
»Vielleicht solltest du dich entschuldigen lassen, wenn du übermüdet bist«, sagte Imogen und überprüfte den Sitz ihrer Locken in dem kleinen Handspiegel, den sie im Pompadour mit sich führte.
Normalerweise hätte Henrietta dem schwesterlichen Vorschlag ohne Zögern zugestimmt. Doch heute Abend waren sie bei Lady Rawlings eingeladen und Mr Darby würde anwesend sein. Auch wenn er gewiss kein Interesse daran hatte, sie wiederzusehen, so würde es sicher amüsant werden, ihn dabei zu beobachten, wie ihre Nachbarn auf seine städtischen Allüren reagierten. Wenn diese erkannten, dass sich ein Schwan in ihren Dorfteich verirrt hatte, wäre es doch gewiss interessant, dies aus der ersten Reihe mitzuerleben.
5
Die berüchtigte Esme
Shantill House
Limpley Stoke
Lady Esme Rawlings fühlte sich nicht mehr sehr beweglich. Sie starrte ihre Fußknöchel an, die ihr Leben lang ihr ganzer Stolz gewesen waren. Als sie in die Gesellschaft eingeführt wurde, war es in der freudigen Erwartung geschehen, dass den Gentlemen beim Anblick ihrer schlanken Fesseln der Mund wässrig wurde. Und nachdem erstmals das Bild einer Französin mit seitlich gerafftem Rock erschienen war, hatte Esme keine Zeit verloren, ihre Röcke ebenfalls aufzustecken.
Doch jetzt … Ihre Knöchel waren unleugbar fett. Leise ächzend beugte sie sich vor und drückte mit dem Finger auf die Stelle, wo einst ihr Knöchel gewesen war. Der Finger versank in aufgeblähtem Fleisch. Es war unglaublich. Obwohl es im Grunde keine Rolle spielte, denn der einzige Körperteil, den ihre Umwelt wahrnahm, war ihr Bauch, wie die regelmäßigen Kommentare der Dienerschaft nur zu deutlich bewiesen. »Mylady, Ihr Bauch ist ja ganz schön ordentlich!«
Bevor sich Esme der Aufgabe angenommen hatte, ein Kind auszutragen, hatte nie jemand ein Wort über ihren Bauch verloren. Im normalen Leben war der Bauch einer Dame schlicht etwas Unaussprechliches.
Seufzend lehnte sie sich auf der Chaiselongue zurück und legte die Hände auf die Wolldecke, mit der sie ihren Bauch bedeckt hatte. Wenn sie auf dem Rücken lag, erhob sich ihr Bauch wie eine Insel im Fluss. Die schwache Januarsonne wärmte ihre geschlossenen Lider. Unter ihren Händen regte sich etwas, stieß sanft gegen die Bauchdecke.
Tja, Miles , dachte sie, hier meldet sich dein Kind.
Vielleicht.
Aus der Entfernung hörte sie Helene, die nach ihr rief. Doch Esme war nicht danach, zu antworten. Sie blieb still liegen und versuchte, mit den Fingern zu ertasten, ob womöglich zwei winzige Bewohner in ihr hausten.
Die alte Milchhändlerin aus dem Dorf hatte schon des Öfteren gesagt, dass es Zwillinge sein müssten. Dies lag durchaus im Bereich des Möglichen, denn Esme war geradezu unförmig geworden. Und anders als die meisten Frauen wusste sie ganz genau, wann sie empfangen hatte – vielmehr, sie konnte den Zeitpunkt der Empfängnis auf zwei aufeinanderfolgende Nächte beschränken. Das bedeutete, dass sie jetzt haargenau sechs Monate schwanger war, nicht mehr und nicht weniger.
Dennoch schien sie von Minute zu Minute mehr anzuschwellen. Ihr Bauch war so dick wie der manch anderer Frauen kurz vor der Geburt – und das Baby sollte doch erst in drei Monaten kommen. Zwillinge zu bekommen war eine interessante, wenn auch erschreckende Vorstellung. Wie konnte das sein? Und wie konnten es nicht Zwillinge sein?
Ein Junge und ein Mädchen, dachte Esme. Oder zwei Mädchen. Oder zwei Jungen. Hinter ihren geschlossenen Lidern tanzten die Kinder im warmen, goldenen Sonnenlicht, kleine Mädchen in Schürzen mit Bändern im lockigen Haar, Jungen mit zerzausten Haaren …
Nein! Sie hatte den Jungen versehentlich blondes Haar angedichtet. Diese Haarfarbe habt ihr nicht, ermahnte sie die Knaben im Stillen. Ihr habt Miles’ schönes braunes Haar. Jedenfalls eine Zeit lang. Eurem Vater sind nämlich nur noch ein paar Strähnen geblieben.
Sie mischte die Bilder in ihrem Geiste neu. Nun hatten die Knaben liebe runde Gesichter und zerzaustes braunes Haar, das sich auf dem Oberkopf bereits ein wenig lichtete, obwohl sie erst ein Jahr alt waren. So ist es besser, dachte Esme schläfrig. Braunes Haar. Miles’ Söhne.
Eine kühle Stimme weckte sie auf. Es war ihre Freundin Helene – Gräfin Godwin für den Rest der Welt. »Du hast Besuch, Esme.«
»Besuch?«, fragte sie und kämpfte gegen den Wunsch an, wieder in ihrem schläfrigen Tagtraum zu
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