Ein delikater Liebesbrief
versinken.
»Dein Neffe ist überraschend eingetroffen.«
Helenes Stimme hatte einen schroffen Unterton. Esme mühte sich in eine sitzende Haltung. »Darby ist hier? Darby? Tatsächlich?«
»Er ist in einer Reisekutsche mit seinen Schwestern vorgefahren. Es macht den Eindruck, als wäre er tagelang unterwegs gewesen.«
»Was in aller Welt will er hier?«
»Er sagt, die Kinder brauchten frische Landluft.«
Esme erhob sich mit ein wenig Hilfe von Helene.
»Esme!«, sagte die Freundin mahnend. »Verstehst du denn nicht, warum Darby dich ausgerechnet jetzt besucht?«
»Ich habe ihm geschrieben, dass die Londoner Luft für Kinder doch äußerst ungesund ist. Zuerst hat er sich geweigert, aufs Land zu kommen, aber nun hat er seine Meinung wohl geändert.« Sie machte sich auf den Weg, den Hang hinauf zum Haus.
»Warum?«, wollte Helene wissen. »Warum sollte Darby seine Meinung ändern?«
»Weil die Londoner Luft ungesund ist?«, gab Esme leicht verwirrt zurück. Durch die Schwangerschaft schien ihr Kopf mit Watte gefüllt zu sein.
»Benutz doch mal deinen Kopf! Er ist argwöhnisch wegen des Kindes, das du im Leibe trägst. Darby war doch Miles’ Erbe, nicht wahr?«
»Und er ist es noch«, berichtigte Esme.
»Wenn du einen Knaben zur Welt bringst, nicht mehr.«
Esme blieb abrupt stehen und starrte ihre Freundin an. Helene trug ein rosafarbenes Wollkleid mit passendem gefüttertem Umhang und Handschuhe. Die richtige Kleidung für einen Wintertag auf dem Lande. Ihr Haar war zu einem komplizierten Knoten aus Zöpfen hochgesteckt, der den Eindruck erweckte, dass ihr Kopf schwanengleich auf ihren zarten Schultern thronte. Auch wenn sie durchaus nicht so wirkte, war sie eine clevere starke Frau.
»Darüber haben wir doch schon gesprochen«, gab Esme zurück. »Darby ist und bleibt Miles’ Erbe. Ich werde den Besitz nicht übernehmen.«
»Papperlapapp!«, rief Helene.
Es war die schlimmste Unmutsäußerung, die sie sich erlaubte. Esme wusste nun, dass ihre Freundin wirklich beunruhigt war.
»Wenn du einen Knaben bekommst, steht ihm Miles’ Erbe zu. Dieses Haus und das Londoner Stadthaus, in dem Darby wohnt, falls ich nicht irre. Du wirst deinen Sohn nicht um sein Erbe bringen. Im Grunde bin ich einigermaßen sicher, dass du dazu vom rechtlichen Standpunkt aus auch gar nicht in der Lage bist.«
Esme wusste, dass sie gleich etwas sagen würde, das wenig klug war. Unbewusst faltete sie ihre Hände über dem Bauch, als wollte sie das Ungeborene schützen. »Du scheinst nicht zu begreifen, dass dieses Kind unter Umständen nicht von Miles ist.«
»Das kannst du doch gar nicht wissen!«, fauchte Helene.
»Denkst du, ich würde eines anderen Mannes Kind als Miles’ Kind ausgeben?«
»Würdest du Miles’ Sohn sein Erbe verweigern?«
»Natürlich nicht!«
»Woran willst du es denn erkennen?«
»Ich werde einfach erkennen, wessen Sohn er ist.« Esme fühlte ein Brennen hinter den Augen. Das war das Schlimmste an der Schwangerschaft. Sie, die nicht mehr geweint hatte, seit ihr Vater sie mit einem wildfremden Manne verheiratete, weinte jetzt mindestens vier- oder fünfmal am Tag.
»Selbst ich, die ich keine Ahnung von Kindern habe, weiß, dass es unmöglich ist, die Abstammung eines Kindes zweifelsfrei festzustellen«, verkündete Helene. »Erinnere dich nur an den Wirbel im letzten Jahr, als der Earl of Northumberland behauptete, sein Erstgeborener könne nicht von ihm gezeugt sein, da der Junge schon zum vierten Mal aus Oxford verwiesen worden war.«
»Northumberland ist ja auch ein Trottel«, murmelte Esme.
»Vermutlich nicht. Die Gräfin wurde immerhin im gleichen Jahr wie ich in die Gesellschaft eingeführt und ich bin sicher nicht die Einzige, die sich daran erinnert, dass sie in einen einfachen Soldaten vernarrt war. Es hieß, ihr Vater habe sie schnellstens verheiratet, um eine mésalliance zu verhindern. Aber ihr Kind wurde kaum neun Monate nach der Hochzeit geboren … Könnte es nicht sein, dass sie aus einem bestimmten Grund so überstürzt geheiratet hat?«
Esme bedachte die Freundin mit einem finsteren Blick. »Ich kann einfach nicht glauben, dass du mir derart schäbigen Klatsch erzählst, Helene. Das sieht dir gar nicht ähnlich.«
»Ich versuche nur, dir ein wenig Vernunft beizubringen«, gab Helene säuerlich zurück. »Es gibt keine Möglichkeit, herauszufinden, wessen Kind du austrägst. Du hast schwarzes Haar, Sebastian Bonnington hat blondes, und dein Mann hatte braunes Haar. Selbst
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