Ein delikater Liebesbrief
nicht einfach akzeptiert, dass sie verheiratet ist. Sie wird sicher einen unangemessen tiefen Ausschnitt und das knappste Mieder diesseits von London tragen. Und vermutlich wird sie obendrein darauf bestehen, den ganzen Abend neben mir zu sitzen.«
»Sie möchte nur an deiner Beliebtheit teilhaben, Liebes«, beschwichtigte Millicent ihre Tochter. »Und ich mag diesen verdrießlichen Ton nicht. Die Frauen werden während der ganzen Saison deine besten Verbündeten sein, aber nur dann, wenn du dich nicht wie ein schnippisches Biest aufführst.« Imogen war eben erst in die hiesige Gesellschaft eingeführt worden, und schon jetzt buhlten die jungen Männer lautstark um ihre Aufmerksamkeit. Dieser Umstand hatte eine unglückselige Wirkung auf ihren Charakter zur Folge.
»Keiner wird mich ein zweites Mal anschauen, wenn Selinas Busen wie ein Wäschestück für alle Welt zur Ansicht ausliegt!«
»Das ist eine höchst undamenhafte Bemerkung«, tadelte die Mutter. »Warum trägst du nicht das elfenbeinfarbene Kleid statt des bestickten violetten?«
»Das könnte ich machen«, murmelte Imogen. »Was wirst du denn tragen, Henrietta?«
»Mein italienisches Kreppkleid.«
Imogen starrte die große Schwester an. »Ich dachte, das wolltest du für eine besondere Gelegenheit aufheben.«
»Ich hab’s mir anders überlegt.«
»Lady Rawlings trägt Trauer , Henrietta. Man kann nicht erwarten, dass in ihrem Hause getanzt wird.«
Henrietta öffnete den Mund, aber Imogen war schneller.
»Nicht dass die Trauer eine Rolle spielte, denn du tanzt ja ohnehin nie. Warum in aller Welt musst du unbedingt das Kreppkleid tragen? Ich hab gedacht, du wolltest es dir für die Gemeindeversammlung in Tilbury aufsparen.«
Henrietta hob die Schultern. »Warum sollte ich? Wie du ganz richtig gesagt hast, tanze ich ohnehin nicht, dann kann ich auch tragen, was ich will. Es macht sowieso keinen Unterschied.«
»Niemand weiß, was die Zukunft für einen bereithält, Liebling«, mischte sich Millicent ein und legte Henrietta den Arm um die Schultern.
Henrietta lächelte ihre Stiefmutter liebevoll an. »In meinem Fall wird die Zukunft aber keine Tänzer bereithalten. Und auch keine Verehrer.«
»Du bist jederzeit schöner als Selina Davenport«, stellte Imogen mit einiger Befriedigung fest.
Henrietta lächelte. »Das ist ja auch so überaus wichtig.«
»Aber es ist wahr. Keines der hiesigen Mädchen kann dir das Wasser reichen. Wenn du nicht hinktest, würden sie keinen einzigen Freier abbekommen. Ich habe gehört, wie Mrs Burnell gesagt hat, du seiest gefährlich schön, Henrietta. Stell dir nur vor: gefährlich schön! Von mir wird das nie jemand sagen können. Nicht mit diesem Haar, das so gar nicht der Mode entspricht.«
Imogen stellte sich hinter Henrietta und schnitt dem Spiegel eine Grimasse. Henriettas Haar hatte die Farbe blassen Bernsteins, mit honigfarbenen und zitronengelben Strähnen durchzogen. Imogen dagegen konnte nur mit schwarzen Locken aufwarten, die zurzeit nicht in Mode waren.
»Papperlapapp!«, sagte Henrietta unverblümt. »Niemand schert sich um deine Haarfarbe, wenn du keine Kinder bekommen kannst.«
»Mr Gell hat doch von einem neuen Arzt gehört«, erinnerte Imogen die Schwester. »Dieser Knochendoktor in Swindon. Vielleicht kann er dir ja helfen.«
»Papa hat mich doch schon zu jedem Arzt im Umkreis von vierzig Meilen geschleppt und alle haben das Gleiche gesagt: Wenn ich ein Kind erwarten würde, würde ich vermutlich bei seiner Geburt sterben und das Kind mit mir. Es ist besser, der Wahrheit ins Auge zu sehen und nicht davon zu träumen, dass ein neuer Arzt zu einem anderen Urteil kommt.«
Imogen presste die Lippen zusammen und sah einen Augenblick lang wie eine herrische römische Göttin aus. Oder wie ihr verstorbener Vater.
»Ich würde mich damit nicht zufriedengeben«, widersprach sie. »Irgendwo gibt es einen Arzt, der dich heilen kann. Du wirst schon sehen.«
Henrietta lachte nur. »Ich will keinen Ehemann.«
»Aber du betest jedes Baby an«, sagte Imogen, die durchaus nicht überzeugt schien.
»Nein, das tue ich nicht«, entgegnete Henrietta, angewidert von dem Bild der alten Jungfer, das ihre Schwester heraufbeschwor. War sie wirklich so eine unerträgliche verhinderte Mutterglucke? Ein leider allzu vertrautes Gefühl der Verzweiflung drückte ihr aufs Herz. Es war so ungerecht.
Wenn sie doch nur wie diese eleganten Damen wäre, die keinerlei Interesse an ihrem Nachwuchs hegten. Lady Fairburn
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