Ein delikater Liebesbrief
hart. »Natürlich vermisse ich … meinen Mann Miles, natürlich vermisse ich ihn.«
Ihre Stimme hatte einen seltsamen Klang. Henrietta wusste so gut wie alle Welt, dass Miles und Esme Rawlings seit Jahren nicht mehr zusammengelebt hatten. Stattdessen hatte man Lord Rawlings in Limpley Stoke des Öfteren in Begleitung einer gewissen Lady Childe gesehen. Diese Verbindung war allgemein bekannt. Gestern Abend jedoch hatte Darby angedeutet, dass Onkel und Tante sich vor dem Tode Lord Rawlings’ wieder miteinander versöhnt hätten.
»Es heißt, die Zeit heile alle Wunden«, unternahm Henrietta einen ungeschickten Versuch, Lady Rawlings zu trösten.
»Es ist einfach nur unendlich schwer, unter diesen Umständen ein Kind zur Welt zu bringen. Und jetzt, da Darby und die Kinder hier sind, fühle ich mich so … so …« Ihre Stimme versagte.
»Vielleicht würde es Ihnen besser gehen, wenn Sie nur an Ihr Kind denken.«
»Ich kann es mir aber nicht vorstellen !« Allmählich wurde sie leicht hysterisch. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie mein Kind aussehen wird!«
»Nun, dies weiß man vorher nie, nicht wahr? Doch sobald das freudige Ereignis eingetreten ist, scheinen vorherige Ängste keine Rolle mehr zu spielen. Ich kann Ihnen versichern, Ihr Baby wird Sie bezaubern, und wenn es noch so hässlich ist. Mrs Raddles Sohn ist so dick wie eine Rübe und trotzdem hat sie ihn noch nie Vielfraß mit Schweinebacken geschimpft – obwohl es durchaus zutreffen würde. Der Bursche zählt noch nicht einmal sieben Jahre und hat im vergangenen Frühjahr einen Wettbewerb im Kuchenessen gewonnen!«
Doch Esme Rawlings erwiderte lediglich wehklagend: »Sie verstehen nicht, was ich meine. Ich weiß nicht … ich weiß nicht … ich bin nicht sicher, wie mein Kind aussehen wird!«
Henrietta blinzelte verblüfft. »Aber Lady Rawlings!«
»Nennen Sie mich nicht so, bitte reden Sie mich nicht mit diesem Namen an!«
Esme versank offenbar mehr und mehr in einen Zustand der Hysterie. Henrietta blickte sich suchend nach Hirschhornsalz oder Brandy um, den probaten Heilmitteln gegen Zustände. Sie trug leider nie selbst ein Riechfläschchen bei sich.
Zum Glück machte Lady Rawlings nicht den Eindruck, als ob eine Ohnmacht unmittelbar bevorstünde. »Mein Name ist Esme «, betonte sie und löffelte Zucker in ihren Tee. »Bitte nennen Sie mich doch Esme. Tatsache ist …«
Sie hob die zierliche Tasse an ihre Lippen und schaute Henrietta über den Tassenrand hinweg an. »Tatsache ist, dass ich unsicher bin, wer der Vater meines Kindes ist.«
Nur mit großer Willensanstrengung gelang es Henrietta, ihre Bestürzung zu verbergen. Sie nahm ebenfalls ihre Tasse zur Hand und trank einen Schluck Tee. »Ach, ist er … gibt es mehrere Kandidaten?«
»Jetzt klingen Sie wie meine Freundin Gina. Die Herzogin von Girton. Genau so etwas würde sie sagen. Sie ist so schrecklich praktisch. Gina würde niemals in eine solche Lage geraten.« Wieder flossen die Tränen. »Ich bin ihr eine schlechte Freundin gewesen!«
Henrietta überlegte, welche tröstenden stärkenden Worte sie dieser zutiefst verzweifelten Frau sagen könnte. Doch ihr fiel nichts ein, denn sie verstand nicht im Geringsten, worum es in Lady Rawlings’ verworrener Geschichte ging.
»Verstehen Sie, Gina sollte eigentlich Lord Bonnington heiraten, hat es dann aber doch nicht getan.« Die Worte sprudelten aus Esme heraus. »Und ich fürchte, dass er ebenfalls der Vater meines Kindes sein könnte!«
Henrietta machte große Augen. Natürlich kannte sie die Geschichte des heimtückischen Marquis’ und seiner infamen Täuschung, um die Herzogin von Girton in sein Bett zu bekommen. »Ist das nicht der Marquis, der versucht hat, die Herzogin von Girton zu …«
»Nein, nein. Die ganze Geschichte war ein gut ausgedachter Schwindel. Er kam in mein Zimmer, weil er mich sehen wollte. Denn … er wollte zu mir .«
»Und hat stattdessen Ihren Ehemann vorgefunden«, schloss Henrietta. »Das war natürlich ein unglückseliger Zufall.« Ihre Stimme klang so mitfühlend, dass Esme sich ein wenig getröstet fühlte, beinahe, als wäre ihr verziehen worden.
»Henrietta – Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Sie Henrietta nenne?« Auf ihr zustimmendes Lächeln hin fuhr Esme fort. »Ich bin eine armselige Person. Aber ich liebe ihn, obwohl diese Liebe unmöglich ist!«
Henrietta versuchte, mit Esmes Gedankensprüngen Schritt zu halten. »Sie lieben also Lord Bonnington?«
»Ich bin wahrlich kein
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