Ein delikater Liebesbrief
In ihrem Traum sagte sie Sebastian stets, dass sie ihn liebte, aber sie vergaß, ihn zu warnen, dass er am nächsten Abend nicht in ihr Schlafgemach kommen dürfe. Nie schaffte sie es, ihm zu sagen, dass ihre Affäre nur diese eine Nacht dauern durfte.
Denn in der Realität war Sebastian am nächsten Abend in ihr Zimmer gekommen. Er hatte sie und Miles erschreckt und Miles zu der irrigen Annahme verleitet, ein Dieb wäre im Zimmer. Als Miles den Eindringling daraufhin angriff, hatte er einen Herzanfall erlitten.
Die Tränen waren Esme so wohlvertraut wie der Geschmack von Brot. Es waren schmerzliche Tränen der Schuld.
Wenn sie doch nur Sebastian widerstanden und ihren Mann nicht betrogen hätte. Wenn sie doch nur aus dem Zimmer geflüchtet wäre, als er sich zu entkleiden begann. Wenn sie doch nur nicht ihrer Sehnsucht nachgegeben hätte.
Esme setzte sich im Bett auf und brach in herzzerreißendes Schluchzen aus, als könnten die körperlichen Erschütterungen ihre Schuld wettmachen.
Natürlich war sie bereits gestraft. Verwitwet. Schwanger. Nicht sicher, wessen Kind sie austrug.
Allein.
Esme hatte Miles auf sanfte Art geliebt und er hatte ihre Gefühle auf die gleiche Weise erwidert. Sie wussten beide um die Schwächen des anderen. Zwar hatten sie zehn Jahre nicht zusammengelebt, doch das hatte ihren zarten Gefühlen keinen Abbruch getan. Dass sie ihn vermisste, war noch ein weiterer Grund zum Weinen.
Schlimmer jedoch war, dass sie sich schuldig an seinem Tode fühlte. Inständig wünschte Esme, sie hätte Sebastian damals gesagt, dass die Versöhnung mit Miles unmittelbar bevorstand. Natürlich hatte er geglaubt, die Aussöhnung der Eheleute würde eines Tages in ungewisser Zukunft stattfinden. Immerhin hatte Sebastian – ebenso wie jeder andere Gast von Lady Troubridges Hausgesellschaft – gewusst, dass die Zimmer von Miles und Lady Randolph Childe nebeneinanderlagen. Wer hätte auch auf den Gedanken kommen sollen, dass Esme und Miles sich einzig und allein aus dem Grund versöhnen würden, um einen Erben zu zeugen? Ganz zu schweigen davon, dass Miles es zudem unverzüglich tun wollte. Sebastian hatte vermutlich angenommen, sie würden sich erst wieder versöhnen, wenn sie wieder in London waren.
Wenn doch nur, wenn doch nur, wenn, wenn … Die Gedanken drehten sich in ihrem Kopf, setzten ihr bei jedem Atemzug zu.
Noch mehr Tränen. Esme schluchzte so sehr, dass ihre Brust bei jedem Atemzug schmerzte. Und all diese Tränen konnten nicht über ein weiteres Gefühl hinwegtäuschen, dessen sie sich unsagbar schämte.
Sie vermisste Sebastian.
Nicht unbedingt wegen ihrer gemeinsamen Nacht. Sie vermisste ihn, weil er ein prinzipientreuer, vernünftiger, aristokratischer Mann war. Wegen ebenjener lästigen Charaktereigenschaften, die ihre Freundin Gina während der Verlobungszeit mit Sebastian zur Verzweiflung getrieben hatten: sein Ehrgefühl, seine Unnachgiebigkeit, seine Charakterstärke und Geisteshaltung. Weil er unfehlbar den Kern eines Problems herausfand. Weil er immer sehr beherrscht und sachlich war, außer – dachte Esme mit Vergnügen und Schuldbewusstsein – wenn es um sie ging. Nur in ihrer Gegenwart war er von Leidenschaft verzehrt worden, nur für sie hatte er sämtliche gesellschaftlichen Fesseln abgelegt.
Denn Sebastian war fort. Er hatte England in der Folge eines Riesenskandals verlassen und war auf den Kontinent gegangen. Er hatte allen erzählt, dass er sich in der Zimmertür geirrt und gedacht habe, er würde das Gemach seiner Frau Gina betreten.
Doch er war gar nicht mit Gina verheiratet gewesen. Sebastian hatte behauptet, er habe die Herzogin von Girton mit einer gefälschten Heiratsurkunde täuschen wollen, weil er zwar mit ihr schlafen, sie jedoch nicht heiraten wolle.
Dies war so typisch für Esmes geliebten ehrenhaften Sebastian: Mit einem Schlag hatte er ihren Ruf gerettet und es Gina ermöglicht, zu ihrem Ehemann zurückzukehren, den sie wirklich liebte. Gina war mit ihrem geliebten Cam nach Griechenland gesegelt und Esme hatte sich aufs Land zurückgezogen, um zu trauern. Und Sebastian – der steife korrekte Ehrenmann Sebastian – war mit einem vernichteten Ruf nach Europa gegangen. Ganz England hielt ihn für einen Erzschurken, dem endlich die Maske vom Gesicht gerissen worden war, für einen Mann, der die Herzogin so verzweifelt begehrt hatte, dass er ihr vortäuschte, eine Sonderlizenz zum Heiraten zu besitzen, nur um sie ins Bett zu bekommen.
Mit einer Herzogin,
Weitere Kostenlose Bücher