Ein delikater Liebesbrief
die einem solch infamen Schurken glücklich entkommen war, besaß die Gesellschaft Gesprächsstoff für Monate. Wenn Sebastian Bonnington nicht die Zimmer verwechselt und in Lord und Lady Rawlings’ Gemach hineingeplatzt wäre … dann hätte er am Ende mit der Herzogin geschlafen, ohne dafür den Segen der Kirche zu haben!
Hier lag die Ironie an der Sache. Esme war die liederliche Person; sie war diejenige, die einen ruinierten Ruf verdiente und anstelle von Sebastian allein und im Exil auf dem Kontinent leben sollte.
Aber Sebastian hatte sich und seinen guten Ruf geopfert und sich in den Augen seiner Landsleute zum Paria gemacht. Und nun war es Sebastian, der irgendwo auf der Welt ganz allein lebte.
Doch vielleicht war er gar nicht allein. Da er nun die Lust kennengelernt und das Vergnügen entdeckt hatte, würde er sich gewiss nach einer schönen Frau umschauen und sie heiraten. Eine Frau, die erkannte, wie anständig er war, die verstand, warum er eine Geschichte von einer Heiratslizenz erfunden hatte, die ihn ins Exil trieb. Diese Frau würde vermutlich sehr glücklich darüber sein, dass der Skandal Sebastian in ihre Arme getrieben hatte.
Und falls Sebastian noch einen Gedanken an die berüchtigte Esme Rawlings verschwendete, dann war dieser vermutlich voller Abscheu, denn weil er so töricht gewesen war, sie zu verführen, hatte er sein Leben ruiniert.
Esmes Tränen waren bitter und schmeckten nach einem gebrochenen Herzen.
12
Am nächsten Morgen:
Tränen und Geheimnisse sind die besten Freunde
Lady Rawlings Morgenzimmer war ganz entzückend und wer immer darin weilte, konnte sich glücklich schätzen. Henrietta blieb beim Eintreten einen Augenblick stehen und genoss die Sonnenstrahlen, die durch die Vorhänge fielen und ros é farbene Streifen auf den Boden zeichneten.
Dann erst erblickte sie Lady Rawlings. Die elegante Hausherrin hatte einen fahlen Teint und Schatten unter den Augen – ihre Erscheinung harmonierte durchaus nicht mit der zitronengelben Tapete.
»Ich habe den falschen Zeitpunkt für meinen Besuch gewählt«, sagte Henrietta. »Ich hatte Mr Darby versprochen, bei der Auswahl eines Kindermädchens behilflich zu sein, aber ich kann ebenso gut ein ander…«
»Nicht doch!« Ihre Gastgeberin versuchte ein Lächeln, doch es gelang ihr nicht. »Bitte nehmen Sie doch Platz, Lady Henrietta. Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?«
Henrietta setzte sich neben Lady Rawlings und beobachtete stumm, wie eine Träne an deren schmaler Nase entlangrann.
»Als Mrs Raddle aus dem Dorf enceinte war«, versuchte sie eine Unterhaltung in Gang zu bringen, »schwor ihr Mann, er werde ihr kein zweites Kind erlauben. Denn sie keifte während der ganzen Schwangerschaft wie ein Fischweib.«
»Ist das wirklich wahr?« Lady Rawlings reichte Henrietta eine Tasse und tupfte die flüchtige Träne mit einem bereits durchweichten Taschentuch fort.
»Ich wurde Zeugin«, beteuerte Henrietta. »Der bedauernswerte Mr Raddle ist ein wenig korpulent. Am Anfang hat ihn seine Frau Vielfraß geschimpft, später sogar einen Vielfraß mit Schweinebacken . Es ist schon sechs Jahre her, aber diesen schillernden Kraftausdruck werde ich nie vergessen.« Sie stellte ihre Tasse hin. Über Lady Rawlings’ Wangen strömten immer mehr Tränen.
»Ach je.« Endlich brachte die Hausherrin ein armseliges Lächeln zustande. »Wenn Mrs Raddle ein Fischweib ist, dann bin ich wohl ein Trauerkloß. Ich muss gestehen, dass ich meistens weine. Meine Kinderfrau sagt, das würde dem Baby schaden.«
Henrietta griff in ihre Tasche und holte ein frisches Taschentuch heraus, mit dem sie behutsam Lady Rawlings’ Tränen trocknete. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was Gefühlsausbrüche in empfindlichen Umständen wie den Ihren bewirken können«, sagte sie, »doch ich halte es eher für unwahrscheinlich, dass Ihr Kind Schaden nehmen wird. Dennoch würde ich nicht zu Tränen am Morgen raten.«
»Aber warum … was spricht dagegen? Was könnte besser sein, als ihnen am Morgen freien Lauf zu lassen?« Lady Rawlings war sichtlich nicht gut beieinander.
»Tränen versalzen Ihren Tee. Hier, nehmen Sie.« Henrietta war schon immer der Meinung gewesen, dass Aktivität ein gutes Mittel gegen hysterische Zustände war.
Esme Rawlings trank gehorsam ein paar Schlucke, doch ihre Tränen wollten nicht versiegen.
»Ich nehme an, dass Sie Ihren Mann schrecklich vermissen«, sagte Henrietta nun. »Ihr Verlust tut mir sehr leid.«
Esme schluckte
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