Ein delikater Liebesbrief
London üblich. Seine Haare waren zu lang und auf seinem Kinn waren einige Stoppeln zu erkennen.
»Ich habe für 104 komponiert«, antwortete er schlicht. »Wundervolle Sätze sind darin: Der Herr macht die Wolken zu seinem Wagen, der einherzieht auf den Flügeln des Windes . Wer könnte solche Verse jemals vergessen?«
Mrs Cable war beeindruckt. Ein gefallener Engel möglicherweise. Doch seine lässige Arroganz wurmte sie gewaltig. » Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen, und sie werden sein ein Fleisch «, zitierte sie züchtig. »Genesis.«
»Sprüche Salomos: Besser ist es, einsam in einem wüsten Lande zu wohnen als bei einem zänkischen und grämlichen Weibe «, gab er zurück. Und wie aufs Stichwort richteten beide den Blick auf seine Frau, die ihnen gegenübersaß.
In Mrs Cables Augen sah die Gräfin alles andere als zänkisch aus. Sie selbst legte nicht allzu viel Wert auf Mode, die ihrer Meinung nach Teufelswerk war. Doch sie war auch nicht blind. Die Gräfin trug ein wunderbares Kreppkleid mit einer Muschelstickerei am Ausschnitt. Es war eine elegante und doch zurückhaltende Aufmachung, die ohne den tiefen Ausschnitt auskam, den die meisten Damen heutzutage trugen. Zudem war das Haar der Gräfin in weiche Zöpfe geflochten und zu einer Frisur mit schlichten Perlen hochgesteckt. Auch dies war züchtiger als bei den meisten Damen.
»Sie sieht wie eine wahre Gräfin aus«, sagte sie zu Lord Godwin. »Tugendhaft, nicht wie so manche feine Dame heutzutage.«
Rees Holland probierte den Fisch und antwortete: »Oh ja, tugendhaft ist sie gewiss.«
Mrs Cable wurde unsicher. Sie hatte ihren Standpunkt dargelegt. Wie sehr wollte sie ihn noch betonen? Vielleicht sollte sie einfach darauf vertrauen, dass die Liebe Gottes im öden Herzen des Earls Wurzeln schlagen konnte. Doch ein zusätzlicher Spruch der Weisheit konnte ja nicht schaden …
»Wer vermag schon eine tugendhafte Frau zu erobern? Denn sie ist kostbarer als Rubine«, sagte sie.
Lord Godwin schaute ihr lediglich stumm ins Gesicht. Mrs Cable spürte ein seltsames Kribbeln in der Körpermitte.
Sofort wandte sie sich ihrem anderen Tischherrn zu. Lord Godwin war ein gefährlicher Mann, auch wenn er zu ungepflegt wirkte, um für junge Mädchen anziehend zu sein. Kein Wunder, dass er einen so schlechten Ruf hatte. Höchstvermutlich lebte er mit dieser Opernsängerin zusammen, wie überall erzählt wurde.
Slope spielte seine Rolle perfekt. Esme wartete, bis die Suppe abgetragen und der Fischgang vorbei war. Sie passte gut auf, damit Helene und Rees nicht aneinandergerieten, denn dann hätte sie ein wenig improvisieren müssen. Abgesehen jedoch von der Tatsache, dass Helene einen steifen Hals bekommen würde, weil sie auf keinen Fall in Rees’ Richtung sehen wollte, benahmen sich die beiden vollkommen gesittet.
Der Braten wurde aufgetragen und Esme beauftragte Slope, mehr Wein zu holen. Sie wollte sichergehen, dass ihr Teil der Tafel den geistigen Getränken in ausreichendem Maße zugesprochen hatte, wenn die Vorstellung begann. Mrs Barret-Ducrorq war bereits rot im Gesicht und verkündete schwülstige Dinge über den Prinzregenten, sie war also hinreichend betrunken. Henrietta war zwar blass, aber immerhin nicht vom Tisch geflohen, und Darby sah man an, dass er sie über die Maßen begehrte. Esme lächelte, einigermaßen zufrieden darüber, wie gut sich alles entwickelte.
Wie geplant erschien Slope nun mit einem Silbertablett und sprach eben laut genug, um die Aufmerksamkeit aller zu erregen. »Entschuldigen Sie bitte die Störung, Mylady. Ich habe eben diesen Brief gefunden. Es ist ein Eilbrief, und da ich vielleicht unabsichtlich die Zustellung eines wichtigen Schreibens verzögert habe, hielt ich es für besser, es nun unverzüglich vorzulegen.«
Nach Esmes Auffassung übertrieb es der gute Slope ein wenig. Offenbar war er doch kein Naturtalent. Sie nahm den Brief und riss ihn auf.
»Oh, Slope!«, rief sie aus. »Der Brief ist gar nicht an mich adressiert!«
»Da auf dem Umschlag kein Name stand«, erklärte Slope, »habe ich selbstverständlich angenommen, dass er an Eure Ladyschaft gerichtet wäre. Soll ich das Schreiben zurücksenden?« Er stand abwartend neben ihr.
Esme musste die Zügel in die Hand nehmen. Ihr Butler würde ihr sonst noch die Schau stehlen.
»Das wird nicht nötig sein, Slope«, wiegelte sie ab. Dann schaute sie mit strahlendem Lächeln in die Runde. »Er scheint an
Weitere Kostenlose Bücher