Ein delikater Liebesbrief
niemanden adressiert zu sein. Das bedeutet, wir dürfen ihn ohne Bedenken lesen.« Sie stieß ein mädchenhaftes Kichern aus. »Ich liebe es, private Briefe zu lesen!«
Nur Rees machte einen absolut gelangweilten Eindruck und schlang das Roastbeef hinunter.
» Ich scheide nicht aus Überdruss an dir «, las Esme mit schmelzender Stimme vor, » noch hoffend, dass die Welt für mich bessere Liebe birgt. Ein Liebesgedicht, ist das nicht wunderbar?«
»John Donne«, erklärte Darby, »doch es fehlen die beiden ersten Worte. Das Gedicht beginnt mit: Liebste, nein, ich scheide nicht aus Überdruss an dir .«
Esme konnte nur mit Mühe ihr Frohlocken verbergen. Es konnte wohl kaum eine Bemerkung geben, die Darbys Autorschaft besser belegte. Er kannte das Gedicht! Sie wagte nicht, Henrietta anzuschauen. Es war schon schwer genug, so zu tun, als wäre sie die langsamste Vorleserin von ganz Limpley Stoke.
» Nie wieder werde ich eine Frau finden, die ich so anbete. Obwohl das Schicksal uns grausam getrennt hat, werde ich die Erinnerung an Dich stets in meinem Herzen tragen .«
»Ich finde nicht, dass dieser Brief öffentlich vorgelesen werden sollte«, schaltete sich Mrs Cable ein, »wenn es denn wirklich ein Brief ist. Vielleicht ist es nur ein Gedicht?«
»Lesen Sie weiter«, forderte Rees Esme auf. Er schien eine unüberwindliche Abneigung gegen seine Tischdame entwickelt zu haben. »Ich würde gern alles hören. Es sei denn, dieses Schreiben wäre vielleicht an Sie gerichtet, Mrs Cable?«
Die würdige Dame kochte vor Zorn. »Das glaube ich ganz und gar nicht!«
»Wenn dem nicht so ist, warum kümmert es Sie, wenn hier ein glanzloses Stück Poesie vorgetragen wird?«
Mrs Cable presste die Lippen zusammen.
Esme fuhr in träumerischem Ton fort. » Ich würde den Mond geben und die Sterne dazu, wenn ich noch eine Nacht …«
Sie brach unvermittelt ab, schnappte entsetzt nach Luft und faltete das Brieflein hastig zusammen, wobei sie nur hoffen konnte, dass sie nicht übertrieb.
»Nun?«, drängte Mrs Cable.
»Wollen Sie nicht zu Ende lesen?«, ließ sich die raue Bierstimme von Mr Barret-Ducrorq vernehmen. »Ich habe gerade gedacht, dass ich mal etwas von diesem John Donne lesen sollte. Natürlich nur, wenn sein Werk auch für Damen geeignet ist«, beeilte er sich hinzuzufügen.
»Besser nicht«, erwiderte Esme und ließ den Brief wie betäubt aus ihrer Hand gleiten. Er segelte genau vor Mr Barret-Ducrorq zu Boden.
»Dann lese ich für Sie weiter!«, verkündete er heiter. »Wo waren wir? Ich würde den Mond geben und die Sterne dazu, wenn ich noch eine Nacht in Deinen Armen verbringen könnte .« Er hielt inne. »Knisternde Poesie, dieser Donne. Mir gefällt’s.«
»Die letzten Zeilen sind nicht von Donne«, erklärte Darby. »Hier improvisiert der Verfasser.«
»Hmmm«, machte Mr Barret-Ducrorq.
»Bezieht sich dieser Brief auf eine Nacht in Ihren Armen?«, fragte Mrs Cable, als könnte sie ihren Ohren nicht trauen.
»Ich fürchte ja«, gestand Esme seufzend.
»Dann wollen wir nichts mehr davon hören«, beschloss Mrs Cable und schnitt Mr Barret-Ducrorq das Wort ab.
»Äh, mh … so ist es, so ist es«, beeilte er sich zuzustimmen.
Esme schaute Carola an, die sich Mr Barret-Ducrorq zuwandte und ihm sanft das Blatt aus den plumpen Fingern nahm. »Ich finde, dieser Brief klingt ganz so wie jene, die mir mein lieber, lieber Mann immer schickt«, begann sie mit honigsüßer Stimme, den Blick entschlossen auf den Brief und weniger auf besagten Ehemann geheftet. »Tatsächlich bin ich beinahe sicher, dass er von ihm stammt. Er ist nur falsch zugestellt worden.«
Mrs Cable machte den Eindruck, als würde sie jeden Moment aus ihrem Korsett platzen. Henrietta war zwar immer noch blass, doch nicht geflohen. Tuppy Perwinkle wirkte hin- und hergerissen zwischen Lachen und Bestürzung. Darby verfolgte das Gespräch mit leichtem Interesse, während Rees gar keines erkennen ließ.
Da hob Helene den Kopf. Sie hatte die meiste Zeit auf ihren Teller gestarrt. »Lies den Brief deines Mannes vor, Carola«, bat sie. »Ich meine, es ist doch immer interessant zu hören, dass es Ehemänner gibt, die die Existenz ihrer Frauen anerkennen.«
Esme zuckte zusammen, Rees jedoch schaufelte sich ungerührt eine mit Fleisch beladene Gabel in den Mund.
Carola las gehorsam. » Nie wieder werde ich eine Frau mit Deinem sternenhellen Haar finden, liebste Henri …« Sie brach jäh ab.
Alle Augen richteten sich auf Henrietta.
»Es tut
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