Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
wieder zu, und der fahlgelbe Keil, den die Innenbeleuchtung des Eisschranks an die Wand projizierte, erlosch.
Wieso nur habe ich das Gefühl, dass sich gerade mein Leben ändert?, dachte sie irritiert und schlich wieder hinunter, sank auf die Matratze und starrte an die Decke. Lange verharrte sie so, reglos, die Arme entspannt neben sich, die Beine zu einem V geöffnet.
Irgendwann griff sie nach dem Anhänger auf ihrer Brust, umschloss ihn ganz fest und versuchte, sich auf nichts anderes als darauf zu konzentrieren und wieder einzuschlafen. Doch auch nach einer halben Stunde, in der sie sich ruhelos hin und her drehte, gelang ihr dieses an anderen Tagen kinderleichte Kunststück nicht. Sie stand wieder auf, ging hinüber in den angrenzenden Vorratsraum und kramte aus den Kisten, in denen MartinsNachlass verstaut lag, seine Notizbücher hervor, schwarze Kladden aus stabilem Karton.
Gleich nach Erhalt der Nachricht seines Todes hatte sie die Kladden samt seinen anderen persönlichen Sachen in Kisten verpackt und sie außer Sichtweite gebracht. Später, hatte sie sich gesagt, werde ich die Hefte herausholen und lesen. Wenn einmal Gras über die Sache gewachsen ist.
Ja, Martin hatte es gehasst, solche Formulierungen aus ihrem Mund zu hören. Und es war nie Gras darüber gewachsen. Sie hielt kurz inne, weil sie plötzlich fühlte, dass sie unterschätzt hatte, wie viel Kraft es sie kosten würde, hinüberzugehen und sie herauszunehmen.
Mit den beiden Kladden unter dem Arm, deren Eintragungen in den späten siebziger Jahren einsetzten, ging sie zurück in ihr provisorisches Schlafzimmer, schob sich ihre Kissen in den Rücken und schlug im schwachen Schein der kleinen Leuchte das erste Heft auf. Unter dem Datum »16. Mai 78« hieß es:
»Jedes Wort, das ich vor nicht allzu langer Zeit mit journalistischem Ernst und dem Furor der Unbestechlichkeit in meine alte Underwood gehackt habe, erscheint mir inzwischen verlogen und falsch. Wie selbstverständlich werte ich die vor Ort erlebte Wirklichkeit bloß noch um in gut konsumierbare Sätze. Ich verstehe es inzwischen blendend, den Schmerz und das Grauen in eine reibungslos funktionierende Kunstsprache zu übersetzen. Das alles kotzt mich an.«
Brigitte blätterte weiter, überflog längere Passagen und las:
2. August 79
Wenn du einen Tod dokumentierst, wirst du ihn nie wieder vergessen.
Mit Bleistift, vermutlich zu einem späteren Zeitpunkt, hatte Martin den Satz durchgestrichen.
5. August 79
Der Tod und das Handwerk des Tötens liefern mir meine Geschichten. Was ist aus mir geworden?
An anderer Stelle, etwas später, hieß es:
19. August 79
Ich habe das Gefühl, nur noch zu existieren, wenn ich gedruckt werde. Ich reiße mich um Einsätze in Beirut oder Damur, wenn mal wieder, wie es Brockmann gerne formuliert, »Blut und Asche« gefragt sind und die Chancen gut stehen, mit vier Doppelseiten ins Blatt zu kommen.
Bewaffnete Kinder, die jubelnd vor Jays Kameras posieren und ihre Gewehre, die sie kaum halten können, stolz in die Höhe reißen, Massengräber, in denen halbverweste Leichen liegen, das alles spottet jeder Beschreibung.
Tagtäglich erleben wir Ausschreitungen, Gewalt und Erniedrigung. Doch das Schlimmste ist, nach Hause zu kommen und zu erleben, dass das hier niemanden interessiert. Ein Kollege von der englischen BBC sagte mir beim Abschied lachend: »Vergessen Sie’s, Martin, das tun alle anderen doch auch.«
Zu Beginn der zweiten, nicht einmal bis zur Hälfte mit Notizen gefüllten Kladde bekannte er in einer kurz vor seiner Ermordung im September 1982 festgehaltenen Eintragung aus dem Libanon:
Habe seit einer Woche Blut im Stuhl, dazu Schmerzen in den Leisten und im Oberbauch. Schiebe es auf das scharfe Essen. Und auf den Arrak. Oder auf irgendeine dumme Infektion. Außerdem leichtes Fieber. Jay klagt über ständiges Sodbrennen und nicht nachlassende Kopfschmerzen. Daran ist wohl auch der Arrak schuld. Ich kann das Zeug inzwischen nicht mehr riechen.
Nachts hallen Schüsse durch die Straßen, und am Tag duftetes nach Thymian, und die Sonne taucht alles in ein unwirkliches, traumhaftes Leuchten.
Gemayels Leute scheinen endlich gesprächsbereit.
Brigitte fehlt mir.
Brigitte ließ die Kladde sinken und starrte ins Leere.
***
Aus dem angrenzenden Wohnzimmer drang die Stimme des Nachrichtensprechers gedämpft herüber, und Marc, der davon wach geworden war, zog vorsichtig seinen Arm unter Rachaels Kopf hervor. Er erhob sich, zog die Tür
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