Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
schwelgen? Dass sie endlich wieder unter Leute gehen sollte? Freunde treffen und sich nach einem Mann umsehen sollte, statt sich weiter wie eine Pennerin in ihren abgedunkelten vier Wänden zu verschanzen, steinhartes Brot zu kauen und stoisch eigentlich nicht mehr genießbare Joghurts zu löffeln.
Und die Magnolienblüten? Aus einem sogenannten Blumenorakel wusste sie, dass die Magnolie als ein Symbol weiblicher, reiner Schönheit galt, als Brücke zwischen Himmel und Erde. In ihrem Traum aber waren die Blütenblätter wie verfaulte Bananenschalen auf sie heruntergesaust, glitschig und eklig.
Reglos starrte sie in die Schwärze und vermied es, die Augen zu schließen, um nicht sofort wieder die grellen Scherben sehen zu müssen. Sie versuchte, an etwas anderes zu denken, und augenblicklich fiel ihr Mariannes Brief ein. Auch jetzt, Stunden später, empfand sie Mariannes Bitte, sie in Spanien zu besuchen, als geschmacklos und anmaßend. Wie kam diese Frau, nach allem, was zuletzt zwischen ihnen vorgefallen war, dazu, sich mit solch einem Ersuchen an sie zu wenden? Noch dazu nach so langer Zeit? Was erwartete sie denn? Dass sie ihr, bevor sie starb, die Absolution erteilte und ihr großzügig vergab? Dass sie als ihre Sterbebegleiterin fungierte? Als Führerin in die ewige Nacht? Bloß weil sie Martins Schwester war?
Brigitte versuchte sich Mariannes schönes, offenes Gesichtin Erinnerung zu rufen, den vollen Mund und die tiefliegenden geheimnisvollen Augen, und wie es nun, nach all der vergangenen Zeit und den Schlägen der offenbar todbringenden Krankheit, wohl aussah. Marianne war eine attraktive Frau gewesen, damals, anziehend und überaus feminin, die ihre Wirkung auf Männer sehr wohl kannte. Eine Schönheit. Doch hinter ihrer blendenden Erscheinung hatte Brigitte immer auch noch etwas anderes gesehen, das ihr etwas Obskures, Fragwürdiges verlieh: Verbissenheit, begleitet von einem falschen Überschwang, was ihre Gesichtszüge manchmal verkrampft und in bestimmten Momenten eisig erscheinen ließ.
Brigitte bemerkte, wie ihre Gedanken zu dem zurückdrifteten, was Helga am Telefon über die beiden Geiselgangster und das Medienspektakel und das Katz-und-Maus-Spiel, das sie mit der Polizei spielten, gesagt hatte.
Wieso dachte sie an diese Männer? Was hatte sie mit solchen Verbrechern zu tun? Sie dachte: Wo ist da der Mehrwert für mich als Schriftstellerin, Helga? Und worin, bitte schön, besteht die Verbindung zu meiner Arbeit? Nichts, aber auch gar nichts weist auf einen wie auch immer gearteten Zusammenhang hin.
Trotzdem ließen sie Helgas Worte aus irgendeinem Grund nicht mehr los. Doch aus welchem? In geringer Höhe dröhnte eine Düsenmaschine heran und ließ die Wände kurz erzittern, zog eine weitausholende Schleife über dem Viertel und drehte wieder in Richtung Flughafen Köln-Bonn ab. Immer wieder flogen diese verdammten Piloten mitten in der Nacht mit ihren Maschinen solche Warteschleifen und rissen mit ihrem Höllenlärm das gesamte Viertel aus dem Schlaf.
Martin hatte im Zusammenhang mit seiner Arbeit viele Male mit solchen Leuten wie diesen Geiselgangstern zu tun gehabt, die nur auf ihren Vorteil, auf die Durchsetzung ihrer fragwürdigen, wie auch immer gearteten Ziele aus waren. Undurchsichtigen Typen, die für ein paar Dollar jeden verrieten, Schieber, Waffenhändler,Mörder, selbsternannte Revolutionäre, paranoide religiöse Eiferer, die für ihren Glauben, ohne mit der Wimper zu zucken, sich und andere in die Luft sprengten.
Ihr selbst war diese Welt samt ihren Protagonisten trotz seiner Erzählungen und der vielen Reportagen, die Martin für das Magazin in Hamburg schrieb, immer fremd geblieben. Sie empfand sie als durch und durch abstoßend und verstand nicht, was ihn immer neu dazu trieb, im Dreck und im vergossenen Blut nach der Wahrheit zu suchen. Weshalb eigentlich? War es die verzweifelte Hoffnung, dass am Ende alles Bösen, Kriegerischen und Gewalttätigen ein Mensch wartete, der es wert war, geschätzt, geliebt und geachtet zu werden, die Martin bis zuletzt angezogen hatte? Und zu der er sich durchkämpfen, durchschreiben musste?
Brigitte machte das Licht wieder an, erhob sich und tappte langsam hinauf in die dunkle Küche. Sie zog die Kühlschranktür auf und setzte die offene Milchtüte an die Lippen. In einer eisigen Welle rann ihr die Flüssigkeit die Kehle hinab.
Sie stellte die Tüte zurück und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, schob die Kühlschranktür
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