Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
inzwischen auf Hessen 3 umgeschaltet. Ein Reporter von Radio Bremen berichtete aus Huckelriede. Über der Szenerie war die Nacht hereingebrochen, und rund um den gekaperten Bus flammten immer wieder Blitzlichter auf.
»Keine Ahnung«, sagte Marc, »jemand hat seni ezerim oder so was gesagt, was immer das heißt, und dann aufgelegt. Wahrscheinlicheiner von Ceylans Brüdern. Die wollen mir bloß Angst machen.«
»Die sollen nur kommen«, sagte der Vater und steckte sich eine Reval an.
Vorsichtig öffnete Marc die Tür zu seinem Zimmer. Schwach angestrahlt von den matt leuchtenden VU-Metern seines Technics-Receivers lag Rachael auf der Seite und schlief, eine Gesichtshälfte vom Kissen verdeckt, das Haar in Wellen darüber gebreitet.
Das Telefon klingelte erneut. Sekunden später hörte er seinen Vater in der Diele brüllen: »Lassen Sie meinen Sohn in Ruhe!« Es folgte eine kurze Pause, dann sagte Valentin Steiner in veränderter Tonlage: »Oh, bitte entschuldigen Sie, aber ich hatte ein anderes Telefonat erwartet.« Dann wurde die Dielentür leise geschlossen, und Marc konnte nicht mehr verstehen, was sein Vater am Telefon sprach.
Auf Zehenspitzen schlich er sich an die Tür und lauschte.
»Ja, ist gut. Ja, ich habe verstanden, in einer Viertelstunde bin ich da.« Dann beendete der Vater das Gespräch, öffnete die Tür, blickte Marc mit erstarrter Miene an und sagte: »Dein Großvater hatte vor einer halben Stunde einen Schlaganfall.«
***
Die Antibiotikatherapie schien zur Überraschung aller plötzlich zaghaft zu greifen. Das Fieber war leicht zurückgegangen und hatte sich bei konstant 38,9 eingependelt. Trotz der starken Schwächung durch die Operation schien Pauls Zustand im Moment stabil. Doch das Wort »Entwarnung« nahm natürlich niemand in den Mund. Schon in der nächsten Sekunde konnte die Quecksilbersäule wieder auf lebensbedrohliche 40 Grad ansteigen.
III
Donnerstag, 18. August 1988
12
dpa – Basisdienst, Hamburg
Geiseln noch immer in der Hand der Bankräuber –
Fluchtwagen gewechselt?
Gladbeck (dpa) – Die Gladbecker Geiselgangster, die der Polizei am Dienstagabend 14 Stunden nach einem mißglückten Banküberfall mit zwei Bankangestellten als Geiseln in ihrer Gewalt und mindestens 420 000 Mark freies Geleit abgepresst hatten, haben gegen Mitternacht versucht, in einem Motel an der Bundesstraße 224 (Gladbeck-Dorsten) den Fluchtwagen zu wechseln. Einer der beiden Geiselnehmer gab in dem Lokal einen Schuß ab, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen. Ob es ihnen gelungen ist, einen anderen Wagen zu erpressen, war zunächst unklar. Die Polizei behauptete zumindest, sie habe die Spur der Flüchtigen verloren.
Adam musste an die Rocker denken, die nachts grölend mit ihren aufgemotzten Junaks durch Srodula gefahren waren und ihre brennenden Fackeln in die dunklen Fenster der Bürgerhäuser geschleudert hatten; nationalistische und genau wie dieser Rösner bis zur Halskrause tätowierte Dummköpfe, die genietete schwarze Lederjacken trugen, auf denen hinten die rot-weiße polnische Flagge aufgenäht war.
Adam hatte schon als Junge einen Bogen um diese Typen gemacht, wenn Zagł ę bie spielte und er mit Karoly ins kleine Ludowy-Stadion ging. Die Typen standen mit ihren Maschinen vor den Eingängen, ließen angeberisch die Motoren aufjaulen und provozierten Stadionbesucher so lange mit abfälligen Bemerkungen und Beschimpfungen, bis es zu blutigen Keilereien mit den Zagł ę bie-Anhängern kam.
Rund um den Bus flammten immer wieder die Blitzlichter der Fotografen auf, die wie sich um ihren langerwarteten Erlöser scharende Gläubige an Rösners Lippen hingen.
Adam blickte über die im Halbdunkel des Busses wie von einer vorzeitigen Leichenstarre erfassten Gesichter der schweigend auf ihren Sitzen verharrenden Geiseln.
Er sah in die Augen einer alten Frau, deren graues, stumpfes und von einem dünnen, engmaschigen Netz gehaltenes und am Hinterkopf zu einem apfelgroßen Knoten gebundenes Haar ihr kleines Vogelgesicht wie ein Helm umschloss. An wen oder was sie wohl in diesen Sekunden dachte? Und was mochte das Mädchen mit den traurigen dunklen Augen und den schwarzen, schulterlangen Haaren (in denen ein bunter Reif steckte) fühlen, um dessen schmale, runde Schultern der größere, hinter ihrstehende und mit einem weißen T-Shirt bekleidete Junge seinen Arm gelegt hatte?
Adam bewunderte die stille Würde, die auf den Gesichtern der Geiseln lag. Ihre Ruhe und ihre große Beherrschtheit,
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