Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
zu fliegen, trotz all der Schleusen und geschlossenen Fenster. Wie der als Todesbote gefürchtete Kauz, der dem Volksmund nach so lange gegen ein Fenster klopft, bis der Tod eingetreten ist, hing die Schnake da oben an der Wand. Klein, doch für Unkundige auf den ersten Blick bedrohlich. Bertram fragte sich, wer wohl irgendwann einmal das sich seitdem hartnäckig haltende Gerüchtverbreitet hatte, Schnaken könnten stechen? Und dabei dachte er mit Blick auf das Insekt: Wie sieht das, was du von da oben aus mit deinen Facettenaugen beobachtest, wohl aus deiner Perspektive aus?
Doch plötzlich befielen ihn Zweifel. Konnten Schnaken tatsächlich nicht stechen? Weshalb war er sich da eigentlich so sicher? Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnten, war eine Schnake, die ihrem mit dem Tod ringenden Kind mit einem Stich den Rest gab!
Bertram verengte entschlossen die Augen und dachte mit Blick auf das reglos an der Wand sitzende Insekt: Na warte, Freundchen!, ließ seinen Blick einmal im Raum kreisen auf der Suche nach einem Gegenstand, packte den Stuhl, auf dem er eben noch gedöst hatte, schob ihn an die Wand und stieg darauf.
»Was machst du denn da?«, fragte Amina und spähte irritiert zu ihm herauf.
Er streckte sich, fuhr den rechten Arm aus, so weit er konnte, und trat hektisch von einem Bein auf das andere. Doch es fehlten ihm etwa zehn Zentimeter. »Scheißvieh, verdammtes«, zischte er. Und dann schnaubte er im Befehlston: »Gib mir mal die Schere da!« Dabei ließ er den rechten Arm in Erwartung der Schere sinken, ohne die Schnake auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Nun hatte Amina die Schnake entdeckt. »Ist doch bloß ’ne Schnake«, sagte sie beschwichtigend. »Komm da bitte runter!«
»Nicht, ehe das Vieh erledigt ist«, schnaubte er. »Oder meinst du vielleicht, ich sehe tatenlos zu, wie das Biest unser Kind sticht?«
»Eine Schnake? Mach dich nicht lächerlich, Thomas. Hör auf zu spinnen, und komm da runter.«
Bertram wandte sich ihr in einer leichten, unüberlegten Rechtsdrehung eine Spur zu ruckartig zu. Und dabei verlor er plötzlich den Halt – und fiel.
Schlagartig kam der Schmerz. Am Hinterkopf. Im Rücken. Und in den Ellbogen. Dann wurde ihm schwarz vor Augen, und es war wie eine Erlösung.
***
Ich bin erfolgreich und inzwischen auch ziemlich wohlhabend, dachte Brigitte wie zum Trost und streckte sich der Länge nach auf der mit einem nachtblauen Satinlaken bezogenen, auf dem Boden liegenden Matratze aus. Wohlweislich hatte sie das Ding gleich zu Beginn der Hitzewelle hinunter ins Souterrain geschafft, um nachts wenigstens ein paar Stunden Ruhe vor der Hitze zu finden. Dort unten war es gut 15 Grad kühler.
Bis auf einen hautfarbenen Schlüpfer und das Panther-Collier von Cartier, das sie sich von einem Teil des Geldes, das ihr die Verfilmungsrechte ihres zweiten Mireille-Romans eintrugen, gegönnt hatte, war sie nackt. Wie ein Talisman schmiegte sich der diamantbesetzte, zeigefingerlange Goldanhänger zwischen ihren Brüsten an die warme Haut. Vor dem Badezimmerspiegel stehend, hatte sie ihn sich wie für einen wartenden Liebhaber angelegt und sich nicht sattsehen können an seiner funkelnden Schönheit. Mit dem Anhänger in der Hand, den ihre Finger wie den Schlüssel zu der auf sie wartenden Traumwelt umschlossen, schlief sie ein.
Nur eine halbe Stunde später aber schreckte sie aus unruhigem Schlaf wieder hoch, schnappte nach Luft und fuhr sich hektisch mit der Hand über Mund und Augen, um die schweren, nassen Magnolienblütenblätter und die vom Regen durchweichten Fotos wegzuwischen, die im Traum auf ihr Gesicht niedergegangen waren.
Aus einem sich stahlblau über ihr krümmenden Frühlingshimmel waren die Fotos und herb duftenden Blütenblätter mit großer Geschwindigkeit auf sie herabgestürzt, riesigen Nachtfaltern gleich, hatten sich in ihren Haaren verfangen und sich im Grasliegend plötzlich in grell blinkende Glasscherben verwandelt, in denen sie ihre eigenen, angstverzerrten Gesichtszüge gespiegelt sah. Reflexartig hielt sie schützend die Hände vors Gesicht und schrie so lange, bis sie davon wach geworden war.
Sie richtete sich auf, machte Licht und schielte erschöpft auf ihre neben der Matratze liegende Armbanduhr. Sie zeigte noch nicht einmal zehn. Sie löschte das Licht und sank zurück in ihre Kissen. Sie fragte sich, was ihr Unterbewusstsein ihr durch diesen Traum sagen wollte. Dass sie aufhören sollte, in ihren Erinnerungen an Martin zu
Weitere Kostenlose Bücher