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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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ab.
    Wütend hängte Chris den Hörer auf die Gabel, und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Dann angelte sie den Fünfziger aus dem Geldschacht, warf ihn in ihr Portemonnaie zurück, verließ die Telefonzelle und lief zu ihrem Wagen.
    »Na, endlich! Wurde aber auch Zeit!« Ihr Fahrgast war aus dem Taxi ausgestiegen und sah sie vorwurfsvoll an. Wortlos stieg sie in den Wagen, legte ihr Portemonnaie in die Mittelkonsole, holte die volle, unbenutzte Wasserflasche unter ihrem Sitz hervor und trank einen Schluck von der lauwarmen Flüssigkeit.
    Sie stellte sich ihren Vater vor, wie er reglos im Keller in seinem Sessel lag, von Schmerzen betäubt, während Wanda, diese Idiotin, in ihrem Ordnungswahn nichts Besseres zu tun hatte, als keuchend und auf allen vieren um ihn herumzukriechen, auf der Suche nach Nüssen, statt einen Arzt zu rufen.
    Nachdem Leo Mahler irgendwann beschlossen hatte, seinen lediglich von einer altersschwachen Stehlampe illuminierten Lebensmittelpunkt unter die Erde zu verlegen, und im Halbdunkelzwischen Tischtennisplatte, Ledersessel, Postkartenalben und Anglerheftchen eine Art Kokon um sich gesponnen hatte, in dessen Inneres die Außenwelt nicht mehr hineinreichte, begann er eines Tages heimlich damit, seine Erinnerungen auf Tonband aufzunehmen. Er borgte sich kurzerhand das kleine Grundig-Tapedeck seiner Tochter aus, mit dem sie sonntags regelmäßig die neusten Top-40-Hits mitschnitt, und sprach in seiner langsamen, brüchigen Stimme Erlebnisse aus seinem Leben in das Mikrophon.
    Als Chris ihr Tapedeck Tage später nach langem Suchen im Keller fand, dachte sie überrascht: Wie kommt das Ding denn hierher? Das Gerät und das Mikrophon standen auf der Tischtennisplatte, daneben lag die Brille ihres Vaters, die Gläser wie üblich verschmiert. Sie sah, dass eine Kassette eingelegt war. Es war keine ihrer üblichen BASF-Kassetten mit immer wieder überschriebenen Schildchen, sondern eine nagelneue Maxell. Sie drückte erwartungsvoll die Wiedergabetaste und hörte eine Stimme, so fern und gedämpft, als dringe sie aus einem Erdloch an ihr Ohr. Die Stimme ihres Vaters.
    Und dann erfuhr sie, das Ohr nah an dem kleinen Lautsprecher, erstmals von einem Zwillingsbruder ihres Vaters namens Lutz, einem um sechs Minuten älteren Unbekannten, der bei der Luftschlacht um England, im Rahmen eines »Unternehmens Seelöwe«, dem eine Invasion der Insel folgen sollte, mit seiner Messerschmitt Bf 109 E abgeschossen worden war und seither als verschollen galt.
    Sie hörte, dass auch ihr Vater ein begeisterter Flieger und vier Jahre zuvor, 1936, Mitglied der sogenannten Flugzeugführerschule auf dem Fliegerhorst Oldenburg gewesen war. Stolz war aus der Stimme Leo Mahlers herauszuhören. Er war Teil des Oldenburger Geschwaders gewesen und hatte die Angriffe der US-Force und die Zerstörung des Horsts 1944 miterlebt, ebenso das Eintreffen der kanadischen Truppen, die am 3. Mai Oldenburg erreichten und den Krieg für beendet erklärten.
    So hatte Chris ihren Vater noch nie reden gehört. Atemlos und verzweifelt. Gebannt lauschte sie seinen Ausführungen, der Nennung und Beschreibung komplizierter Flugzeugtypen, Flugeinsatzzahlen und Geschwadernummern. Sie musste sich konzentrieren, um alles halbwegs klar und deutlich zu verstehen. Bis sie ihren Vater zuletzt wieder und wieder den Namen seines Bruders sagen und ihn dabei weinen hörte wie ein Kind. Da erst drückte sie die Stopptaste.
    ***
    Wie zwei Boxer, die beide nicht mehr an einen Sieg glaubten, saßen sie in dem kleinen, schummrigen Raum der Intensivstation, dessen Deckenlicht auf ein fahles gelbes Leuchten heruntergedimmt worden war. Die Begegnung mit der Seelsorgerin und das sich daran anschließende Taufritual hatte Bertram die letzten Energien und jeden Restglauben an eine wie auch immer geartete Zukunft für seinen Sohn geraubt.
    Er blickte hinauf zur Decke, als hocke dort oben in einer Ecke ein kleiner, ihnen wohlgesinnter Gott, der das große Minuszeichen, das seit Stunden wie ein Damoklesschwert über ihnen schwebte, im Handumdrehen in ein Pluszeichen verwandeln könnte. Und da sah er sie in ihrer ganzen, spinnenartigen Schönheit: eine kinderhandgroße Schnake, Tipulidae, ein Exemplar der Diptera, die sich mit ihren langen, fadendünnen Beinen an die Zimmerwand klammerte wie ein Alpinist an eine spiegelglatte, senkrecht in die Tiefe abfallende Gletscherwand. Auf geheimen, nur ihr bekannten Wegen war es ihr gelungen, in dieses Zimmer

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