Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
wollte.
Emanuele (15) saß in dem gekaperten Bus.
Bremen – Er war ein schmächtiger Junge. Doch der schwarzhaarige Emanuele G. hatte einen Bärenmut. Als Geiselgangster Dieter Degowski seiner kleinen Schwester (8) die Pistole an die Stirn drückte, warf sich der 15jährige schützend vor das Mädchen. Sekunden später traf ihn die tödliche Kugel. Emanuele G. opferte sein Leben, um seine Schwester zu retten.
***
die tageszeitung
Polizei vergaß Notarzt. Geisel verblutete. Hätte in Bremen der 15jährige Italiener überleben können?
Hätte in Bremen der 15jährige Italiener überleben können? Eine der Geiseln: »Wildwest-Strategie der Polizei.« Behörden schweigen / Und die Eltern des Jungen trauern.
Degowski hatte geschossen, doch ein Rettungswagen fand sich nicht in dem Troß der Polizei- und Journalistenfahrzeuge, die dem Bremer Geiselbus folgten – angeblich weil der Einsatzleitung kein Rettungswagen zur Verfügung stand.
Sie schreckte aus einem dünnen Schlaf hoch, als die Tür aufgemacht wurde und das Licht anging.
»Ja, was ist?«, sagte sie und richtete sich auf. Vor ihr stand ein Mann in einem grünen Kittel, um dessen Hals ein Mundschutz hing.
»Guten Morgen, Frau Wilkins, ich bin Tom Pannero, ich leite das Pflegeteam der Station.«
Er ist tot, er ist gestorben!, schrie eine Stimme in ihrem Kopf, und sie sah den Mann, der sie überraschend freundlich anblickte, ängstlich an. »Ja, was ist? Ist er, ist mein Sohn …?«
»Nein, nein, keine Angst!«, antwortete der Mann und trat einen Schritt näher. »Es sieht jetzt ganz gut aus. Ihr Sohn ist im Moment fieberfrei und hatte das erste Mal Stuhlgang. Außerdem haben sich seine Blutwerte stabilisiert und die Beatmungsparameter sind wieder im Normbereich. Es besteht derzeit auch kein erhöhter Sauerstoffbedarf mehr. Wir haben die Zugabe verringert. Wie es aussieht, ist Paul auf einem guten Weg. Das war es, was ich Ihnen sagen wollte.«
»Oh, mein Gott, wie schön!«, rief sie und fing an zu weinen.
»Ja«, erwiderte er und lächelte sie aufmunternd an. »Ihr Sohn ist wirklich ein kleiner Kämpfer!«
»Und wie geht es jetzt weiter, ich meine …?« Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen weg und schob die Hand sofort wieder unter die Bettdecke.
»Wir werden ihm Tee über eine Magensonde geben und das Schlafmittel reduzieren. Sobald er wacher wird und selbst zu atmen beginnt, werden wir Paul extubieren. Dann bekommt er eine Sauerstoffvorlage über eine Ü-2-Brille. Und sollte sich seinZustand weiter so stabilisieren, spricht aus meiner Sicht nichts dagegen, ihn auf die Normalstation zu verlegen. Dann können Sie rund um die Uhr bei ihm sein.«
»Wirklich?«, rief sie ungläubig.
»Ja!«, sagte der Mann und lachte. »Dann auf Wiedersehen.«
Nachdem der Pfleger gegangen war, löste sie ihre Hände unter der Decke, wo sie sie die ganze Zeit wie zum Gebet gefaltet hatte, ließ sich zurück aufs Kissen sinken und schloss, begleitet von einem tiefen Seufzer, die Augen.
***
Es war der 18. August im Jahr des Drachen, welches sich dem chinesischen Horoskop zufolge seit Jahrtausenden alle zwölf Jahre wiederholt. Zwei Jahre zuvor, im Jahr der Ratte, hatte Deutschland bei der Fußballweltmeisterschaft in Mexico das Finale gegen Argentinien mit 2:3 verloren, und die Jazzlegende Benny Goodman war 77-jährig in New York verstorben.
Thomas Bertram hatte zu Hause in Hirschhorn, im Wohnzimmer seiner Eltern, vor dem Fernseher gesessen und ungläubig auf dessen Mattscheibe gestarrt. Denn zu sehen gewesen waren die ersten Bilder aus dem russischen Tschernobyl, wo sich Stunden zuvor in Block 4 des gleichnamigen Kernkraftwerks der größte anzunehmende Atomunfall ereignet hatte. Der Super-GAU.
Von einem Hubschrauber aus hatte der Werksfotograf Anatoli Rasskasow die ersten Aufnahmen von der radioaktiven Wolke und dem zerstörten Reaktorblock gemacht. Schreckliche, bedrohliche, furchteinflößende Bilder, die um die Welt gehen sollten und sich in diesen Sekunden wie Säuretropfen in Bertrams Netzhäute eingebrannt hatten. Bilder, die ihn in seinem journalistischen Selbstverständnis bestätigten, gegen Vertuschung und für die Wahrheit zu kämpfen, so gefährlich das auch sein mochte.
Thomas Bertrams Geburtstag war der 24. März 1960. Erwar den Chinesen zufolge ein im Zeichen der Ratte Geborener und damit von Natur aus leider nicht mit jenem exquisiten Gen der Drachen gesegnet, das der Legende zufolge Sieger und vom Glück Beschenkte aus ihnen
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