Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
Vom Netzwerk:
kleinen Balkon.
    Rolf Kirchner fühlte sich zerschlagen wie nach einer zu alkoholreichen Feier. Er nippte an der Cola, spähte in die sich amHorizont langsam wie Kaffee, in den man einen Schuss Milch gibt, aufhellende Finsternis und blätterte im Schein der kleinen Außenwandlampe im Telefonregister seines Kalenders. Er musste Steinwald erreichen.
    Hektisch überflog er die kleinen Zahlenkolonnen, bis er endlich Steinwalds Privatnummer in dem Durcheinander von unter- und nebeneinander geschriebenen, von überklebten, durchgestrichenen und korrigierten Telefonnummern entdeckte. Alle Versuche, Steinwald am Vorabend über die ihm bekannten Dienstnummern zu erwischen, waren erfolglos geblieben.
    Nach dem sechsten Läuten sagte eine hörbar verschlafen klingende Frauenstimme: »Ja, hallo?«
    »Rolf hier …!«
    »Rolf …?«
    »Rolf Kirchner. Aus Dortmund.«
    »Ach, du bist es, Rolf. Ja …?«
    »Entschuldige, Ingrid, dass ich so früh anrufe. Aber ich muss unbedingt mit Andreas reden. Ist er da?«
    »Nein«, sagte sie, »er war kurz da, hat geduscht und ist wieder weg. Tut mir leid. Soll ich ihm was ausrichten?«
    »Nein, schon gut, danke«, erwiderte Kirchner enttäuscht, fügte aber kurz, um nicht unhöflich zu erscheinen, hinzu: »Geht es euch gut?«
    »Ach, Andreas geht die Geiselsache an die Nieren. Seit der Junge verstorben ist.«
    »Der Junge ist tot?«
    »Ja. Stell dir vor, sie haben in dem Durcheinander tatsächlich vergessen, einen Krankenwagen anzufordern.«
    »Ist nicht wahr?«
    »Doch. Andreas macht sich große Vorwürfe, auch wenn man ihn persönlich nicht dafür verantwortlich machen kann. Er sagt, Heidkamp hatte die operative Leitung.«
    »Andreas soll sich nicht verrückt machen, Ingrid.«
    »Du kennst ihn ja«, sagte sie. »Er nimmt sich das alles immer so zu Herzen. Der Junge war gerade mal zwölf oder dreizehn.«
    »Fünfzehn«, sagte Kirchner besserwisserisch und schämte sich sogleich dafür.
    »So, aha, also fünfzehn, aber trotzdem viel zu jung. Er wollte nur seine kleine Schwester schützen, sagt Andreas. Die Kleine ist immer noch im Bus. Was die Eltern durchmachen müssen, ist unvorstellbar. Es ist einfach schrecklich.«
    »Ja«, sagte Kirchner, »ja, das ist es.«
    Sie schwiegen einen Moment betreten, dann legten sie nach kurzer Verabschiedung auf. Von Osten her zeigten sich erste rötliche Schlieren am Horizont und kündigten den neuen Tag an. Er erhob sich schwerfällig, nippte noch einmal an der Cola und war auf dem Weg ins Schlafzimmer, als draußen auf dem Balkon das Telefon läutete.
    Er ging zurück, drückte den Hörer ans Ohr und sagte: »Ja?«
    »Hast du etwa nicht geschlafen?«, sagte Jens Andresen, nicht ohne eine Spur Ironie in der Stimme.
    Kirchner sah, wie im Haus gegenüber, auf gleicher Höhe, ein Mann mit nacktem Oberkörper ans Fenster trat, sich auf der Fensterbank lässig abstützte und eine gräuliche Rauchfahne hinausblies.
    »Halt dich fest!«, sagte Andresen. »Die Typen sind auf der A31 in Richtung Oberhausen unterwegs. Wir sind wieder im Geschäft. Heuer vom MEK hat mich gerade angerufen.«
    »Die müssen verrückt sein«, antwortete Kirchner und bildete sich ein, spüren zu können, wie sich in seinen Nebennieren das Adrenalin zu regen und seine Herzfrequenz dadurch spürbar anzusteigen begann. »Ruf die Jungs zusammen, ich bin in zwanzig Minuten da!«
    Er legte auf und atmete einmal tief ein und wieder aus. Ich hab’s gewusst, dachte er.
    Da war sie, die zweite Chance, auf die er gehofft hatte. Unddiesmal würde er sie nutzen und zu Ende bringen, was zu Ende gebracht werden musste.
    ***
    Wohin soll das alles führen?
    Mit dieser Frage war sie aus den Tiefen des Schlafs aufgetaucht, und wie ein ihr zugelaufener herrenloser Hund wich sie ihr nicht mehr von der Seite.
    Wohin sollte dieses Leben, das sie praktizierte, eigentlich noch führen? Diese sinnlose Einsiedelei? Sie schrieb zwei, und wenn es gut lief, manchmal drei Seiten pro Tag, fiel mit vom Wein schwerem Kopf spätnachts ins Bett, schlief schlecht, rappelte sich am nächsten Morgen wieder auf und kehrte nach einer lustlos eingenommenen Mahlzeit an den Schreibtisch zurück. Ihr Haar wurde grauer, ihre Haut faltiger und ihr Blick stumpfer, ihre Zellen langsamer. Und ihr Verstand mürber. Dann und wann erschien ein neues Buch von ihr, und dass ihre Leser ihr dafür nicht nur die Treue hielten, sondern vielmehr immer neue hinzukamen, das sah sie an den halbjährlichen Honorarabrechnungen, die der Verlag ihr

Weitere Kostenlose Bücher