Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
machte.
Im Tierkreiszeichen der Ratte geborene Menschen galten zwar als witzig, einfallsreich und unberechenbar. Doch über die Willensstärke und die Entschlossenheit, die man zum Beispiel im Zeichen des Büffels Geborenen nachsagte, verfügten sie nicht. Und auch nicht über die Strahlkraft und den Mut der im Zeichen des Tigers auf die Welt Gekommenen, denen angeblich kein Risiko zu hoch war. Nein, Thomas Bertram hatte nichts von alledem. Er war 28 Jahre alt, eine Ratte und hatte damals Angst gehabt. Angst um sich, um seine Familie und um seine Zukunft.
Auch jetzt, zwei Jahre später, in den frühen Morgenstunden des 18. August, hatte er trotz des Alkohols, der noch immer in seinem Blut zirkulierte und seinen Gedanken wenigstens eine Zeitlang ihre schmerzhafte Klarheit genommen hatte, genau wie damals Angst. Sie kam in Wellen und kroch den Rücken hinauf wie ein hinterhältiges, vielbeiniges Insekt.
Nein, das Jahr 88 war bislang, weiß Gott, kein gutes. Seine Position innerhalb der Redaktion war wegen mehrerer Versäumnisse, die ihm aus Unachtsamkeit und Selbstüberschätzung unterlaufen waren, inzwischen stark gefährdet; ein Gerichtsverfahren wegen Fahrerflucht, das er sich eingebrockt hatte, weil er mit seinem Fahrradlenker einen parkenden Wagen geschrammt hatte, weggefahren und dummerweise dabei beobachtet worden war, verfolgte ihn seit inzwischen über drei Monaten. Obendrein war sein bester Freund, der mit zwei Krimis um einen belgischen Ermittler erste Erfolge als Schriftsteller feierte, vollkommen überraschend an Krebs erkrankt und kämpfte seit Mai verzweifelt um sein Leben. Haarlos und ohne Fingernägel, die er im Zuge der Chemotherapie eingebüßt hatte. Abgemagert auf52 Kilo. Und nicht zu vergessen sein vollkommen ungeklärtes Verhältnis zu Sirvan.
Als Amina ihm mitteilte, schwanger zu sein, hatte er an die große Wende geglaubt und sich ein Leben in rosigen Farben ausgemalt. Denn wenn er erst einmal Vater sein würde und für das Leben seines Kindes zu sorgen hätte, würde vieles, was bis dato groß und bedrückend erschien, plötzlich nichtig und klein. So hatte er sich das jedenfalls damals mit Blick auf Aminas runden Bauch vorgestellt. Doch es war alles anders gekommen. Mit Pauls Geburt hielt nach kurzer Freude schlagartig die Angst Einzug in seinem Leben. Er war seither angespannt und nervös, übermüdet und ständig auf dem Sprung. Und seine Liebe zu Amina hatte sich in ein permanentes Taktieren und Herumlavieren verwandelt.
Was sich aktuell in seinem Leben abspielte, war vollkommener Irrsinn. Thomas Bertram ging ins Schlafzimmer und öffnete den Kleiderschrank. Wahllos zog er frische Sachen heraus, schlüpfte hinein und schob die Schranktür wieder zu. Dann rief er ein Taxi, löschte das Licht und verließ die Wohnung. Als er unten im Treppenhaus stand und auf das Taxi wartete, strich ihm plötzlich wieder die Katze um die Beine.
Bertram mochte Katzen nicht. Doch die Art, wie das struppige und offenbar herrenlose Wesen ihn mit seinen großen Augen ansah, rührte ihn. Zaghaft wie ein Roboter fuhr er seine Hand aus, um sie zu streicheln – da machte sie sich krumm und fauchte ihn an.
Bertram riss die Hand zurück. »Verdammtes Biest«, rief er erschrocken und trat nach der Katze, verfehlte sie jedoch und glitt dabei nach hinten aus, so dass er fast zu Boden gegangen wäre, fing sich aber an der Wand ab.
Draußen fuhr das Taxi vor. Die Ventile eines alten Dieselmotors klapperten. Die Fahrt durch die frühmorgendliche Stadt in Richtung Amsterdamer Straße hatte für Bertram etwas vomsachten Schaukeln eines Kahns, der durch nächtliche Kanäle schippert. Er legte den Kopf zurück gegen die Nackenstütze und überließ sich ganz der Bewegung, als würde er gewiegt werden. Die Stadt schlief, vorn spielte leise das Radio, und er musste wieder an Sirvan denken, die plötzlich im Krankenhaus aufgetaucht war.
Anfangs hatte er das Ganze als einmaligen Ausrutscher vor sich selbst herunterzuspielen versucht. Doch dann war er nicht mehr von Sirvan losgekommen. Inzwischen empfand er eine tiefe Scham. Dabei war es ihm nie in den Sinn gekommen, Amina für Sirvan zu verlassen. Ohne sie fühlte er sich lustlos und unzulänglich, doch lag er neben ihr, schweiften seine Gedanken früher oder später zu Sirvan ab. Er war eingeklemmt zwischen zwei Menschen wie ein Stück Metall in einem Schraubstock.
Lange Zeit war Bertram sein Leben vorgekommen wie eine große Aufgabe, die er geplant, aber nie wirklich
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