Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
an.
»Was haben Sie im Moment der Schüsse gefühlt?«, fragte er.
Chris Mahler kratzte so lange an einem Mückenstich an ihrem linken Arm, bis sich der erste Blutstropfen bildete. »Ich hatte Angst. Angst, zu sterben. Das Blut hat in meinen Ohren gepocht.Und dann habe ich die Augen zugemacht, und es war schwarz wie in einem Tunnel.«
Sie hörte sich reden. Doch die dazu passenden Gefühle stellten sich nicht ein. Noch nicht. Die würden später kommen. Zu Hause. Wo sie alleine und wehrlos sein würde und ihr niemand beistand, um die schlimme Wucht abzufedern.
Ein junger Journalist hatte sie zur nächsten Polizeistation gefahren, nachdem ihr Fahrgast sich ans Steuer ihres Wagen gesetzt hatte und dem Geiselbus weiter gefolgt war. Betäubt vom Lärm der vorbeifahrenden Autos und erschöpft von der Überdosis Adrenalin, das die Angst immer neu in ihr freigesetzt hatte, hatte sie auf der Mittelleitplanke gesessen und nichts anderes tun können, als immer wieder die warme, abgashaltige Nachtluft einzuatmen.
Ein Flugzeug im Landeanflug auf den Bremer Flughafen war dröhnend und mit eingeschalteten Landestrahlern näher gekommen, rasch gesunken und hinter einer baumbestandenen Anhöhe verschwunden. Wie benommen hatte Chris hinaufgestarrt in den Sternenhimmel. Es war der schönste, wunderbarste Nachthimmel, den sie je gesehen hatte. Doch sie konnte ihn mit ihrem Blick nicht halten, er schien zu fallen, und es wurde enger um sie, er kam näher und näher, schloss sich um sie wie eine Hand – und plötzlich war da tatsächlich eine Hand gewesen, die ihre Schulter berührte.
Ein junger, vielleicht 25 Jahre alter Mann hatte sie ihr auf die Schulter gelegt. »Es ist alles gut. Sie brauchen keine Angst mehr zu haben.« Ohne zu antworten, hatte sie in das offene Gesicht des Mannes geblickt und wortlos genickt.
Dass ihr Fahrgast sie aus dem Wagen gezogen hatte und wortlos davongefahren war, daran konnte sie sich nur noch verschwommen erinnern. Den Anblick der zerborstenen Frontscheibe mit den Einschusslöchern würde sie nicht vergessen. Und auch nicht das Geräusch, als die erste Kugel einschlug.
»Ich habe alles genau mitangesehen«, sagte der junge Mann, als er sie zu seinem auf dem Randstreifen stehenden Wagen führte. »Sie hatten unwahrscheinliches Glück. Sie müssen einen Schutzengel haben.«
Sie bat den Polizisten, der neben dem Arzt stand und auf sie herabsah, um eine Zigarette. Sie war müde, so müde wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Und sie begriff, dass sich hinter ihr die Türen zu einer Welt geschlossen hatten, in die sie nicht mehr zurückkehren konnte.
***
Am liebsten hätte Adam Jalowy den Bus mit durchgedrücktem Gaspedal und einem jähen Rechtsruck des Lenkrads über die Standspur hinweg in den Graben gesteuert, um dem Wahnsinn ein Ende zu bereiten. Denn spätestens seit den Schüssen auf das Taxi war den Typen alles zuzutrauen. Im Rückspiegel hatte er gesehen, wie die Kugeln die Windschutzscheibe des Wagens durchschlugen.
Offenbar spürte Rösner seine Wut. »Ein falschet Ding, und et knallt!«, rief er und zielte mit dem Colt auf ihn.
Im Bus herrschte eine unerträgliche Stille, die alles bedeuten konnte: dass einer, vom zermürbenden, stundenlangen Stillsitzen verrückt geworden, die Nerven verlor und aufsprang, um sich blindlings auf einen der Gangster zu stürzen. Oder dass die Typen endgültig durchdrehten und anfingen, weitere Geiseln zu erschießen. Gleichzeitig ließen die Journalistenautos nicht locker. Stoßstange an Stoßstange folgten sie dem Bus, doch seit den Schüssen auf das Taxi mit größerem Abstand. Wie kleine bösartige Augen glühten ihre Scheinwerfer im Außenspiegel.
Angst, das hatte Adam von seinem Vater gelernt, vernebelte den Blick, machte einen blind und kopflos. Und was er in diesen Minuten am nötigsten brauchte, war ein klarer Kopf. Darum versuchte er, sie nicht an sich heranzulassen, die Angst, trotzallem, was in Huckelriede passiert war. Er zog sich zurück in seine Festung.
Als Junge hatte er sie in sich erbaut. Festung nannte er diesen Ort, weil außer ihm niemand dorthin Zugang hatte. Dort konnte ihm niemand etwas anhaben. Seinen Verstand, seine Seele und seine Gefühle – alles konnte er dort in Sicherheit bringen. Das hatte schon als Kind funktioniert, und es funktionierte auch jetzt. Dort gab es keine Zweifel und keine Angst. Nichts dergleichen drang bis dorthin vor. Dort gab es nur klare, reine Gedanken, die auf nichts und niemanden Rücksicht nahmen.
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