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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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ließ. Im selben Moment donnerte eine Maschine im Landeanflug in geringer Höhe und mit ohrenbetäubendem Lärm über sie hinweg.
    Und dann stand sie zwischen all den hin und her wuselnden Menschen mit ihren Taschen und Rollkoffern in der Abflughalle, durch deren riesige Glasscheiben das späte, orangerote Nachmittagslicht weich und besänftigend hereinfiel, und spürte, wie sie schrumpfte, wie Alice im Wunderland. Ihr Blick sprang suchendzwischen den verschiedenfarbigen Check-in-Schaltern von Cyprus Air, Aer Lingus, SAS, Air France, Iberia und Alitalia hin und her, vor denen sich lange Schlangen gebildet hatten. Sie hasste diesen ganzen Boarding-Zirkus. Doch wo war bloß dieser verdammte Lufthansa-Schalter?
    Sie stellte die Tasche, deren kantige Griffe bereits rote Striemen oberhalb ihres rechten Handgelenks in die Haut gedrückt hatten, ab und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Dann nahm sie ihre Tasche wieder hoch und steuerte, statt weiter nach dem Lufthansa-Schalter Ausschau zu halten, entschlossen auf eine kleine offene Bar zu, wuchtete die Tasche auf einen der freien Barhocker und bestellte, um ihre flatternden Nerven zu beruhigen, einen Prosecco.
    Gierig trank sie von der kühlen, angenehm auf der Zunge perlenden Flüssigkeit und dachte wieder, nachdem sie das halbvolle Glas vor sich auf dem kreisförmigen Tresen abgestellt hatte: Warum nur tue ich mir das an?
    Der Barkeeper, ein Mann mit dunklen, streng nach hinten frisierten halblangen Haaren, starkem Bartschatten und zwei Reihen strahlend weißer Zähne, sah sie eine Weile an. »Na, wo geht’s denn hin, meine Dame?«
    »Spanien«, antwortete Brigitte einsilbig und griff wieder nach ihrem Glas, weil sie nicht wusste, was sie sonst mit ihrer Hand anstellen sollte.
    »Schön«, sagte der Barkeeper und lächelte.
    »Das sagen Sie«, erwiderte Brigitte trocken und leerte ihr Glas. Sie hatte keine Lust auf derlei belangloses Gerede, zog ihr Portemonnaie hervor und legte einen Zehnmarkschein neben ihr Glas.
    »Macht fünf fünfzig«, antwortete der Mann und hielt ihr das Wechselgeld hin.
    »Behalten Sie’s«, sagte Brigitte, packte ihre Tasche und wandte sich, ohne den Mann noch eines Blickes zu würdigen, dem hin und her wogenden Strom der Flugreisenden zu. RechterHand entdeckte sie die blau-gelb beleuchteten Lufthansa-Abfertigungsschalter und steuerte entschlossen darauf zu.
    Eine halbe Stunde später saß sie, nachdem sie ihre schwere Piké-Tasche aufgegeben und ihre Bordkarte erhalten hatte, in der Wartehalle, hielt die Beine übereinandergeschlagen und wartete darauf, dass ihr Flug mit der Nummer LH 245 nach Barcelona aufgerufen wurde. In dem Buch, das sie eingesteckt hatte, Raymond Chandlers »The Long Goodbye«, hatte sie bereits die ersten vierzig Seiten gelesen, als endlich der Aufruf kam und die Reisenden sich kurz darauf um die kleine Schleuse drängten, über die sie an Bord gelangten.
    Sie hatte Glück: Der Platz neben ihr blieb frei, so dass sie ihre Handtasche neben sich auf den Sitz legen konnte. Unaufgefordert legte sie sich den Sicherheitsgurt an und wartete darauf, dass es endlich losging. Dann sprangen die Motoren an.
    Sie schloss die Augen, gab sich ganz dem beschleunigenden Dahinjagen der Maschine über die Rollbahn hin. Dann reckte das Flugzeug seine Schnauze ruckartig in den Wind, gefolgt von einem Kippen. Es drückte sie kurz in den Sitz, der feste Untergrund wich unter ihnen zurück, und sie hoben ab.
    Ein paar Minuten später erreichten sie ihre vorgeschriebene Flughöhe von etwa 3000 Fuß, und ein heller Pling-Ton signalisierte ihr mit dem gleichzeitigen Verlöschen des roten Lämpchens, dass sie sich wieder abschnallen durfte.
    Sie sah aus dem Fenster und betrachtete die wie aus schneeweißen Federn geknüpften fliegenden Teppiche der vorbeiziehenden Wolkenschwaden. Sie trieben auf dem sogenannten Jetstream dahin, um, wie der Kapitän in seiner kurzen Ansprache erklärte, bestimmte Höhenwinde zu nutzen, die eine größere Beschleunigung ermöglichten und zugleich dafür sorgten, dass sie weniger Treibstoff verbrauchten. Begleitet wurde das Ganze von einem Ruckeln und Vibrieren der Wände. Und doch war ihr beim Blick in das gleichförmige Blau, als stünden sie reglos in der Luft.
    Irgendwann löste sie ihren Blick von den sich rasch verformenden und zerfasernden und wie zum Greifen nahen Gebilden und versank, mit nach hinten gegen die Stütze gelegtem Kopf, im Universum ihrer Erinnerungen. Sogleich bildeten sich Mariannes

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