Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
passiert ist, ihnen von Paul berichten, dass sie Großeltern eines lebensfähigen Jungen geworden sind. Doch als er an die dabei unweigerlich aufkommenden Fragen dachte, die sie ihm stellen würden, Fragen nach seiner Zukunft als Vater und Ernährer einer Kleinfamilie, verließ ihn sogleich der Mut, und er verwarf die Idee, tappte stattdessen hinüber ins Schlafzimmer und ließ sich im Halbdunkel, das die heruntergelassene Jalousie erzeugte, kraftlos aufs Bett fallen.
Er stellte sich Amina vor, wie sie trotz Wundschmerzen und der Nachwirkungen der Betäubung beseelt auf dem Rand ihres Bettes saß, die nackten Beine baumeln ließ und angetrieben von einem vor der Zeit erwachten Mutterinstinkt erste Pläne für ein zukünftiges Leben zu dritt schmiedete. Er stellte sich seinen Sohn vor, diesen kleinen Kämpfer, der nichts wusste von dem, was er in den vergangenen 48 Stunden Titanisches geleistet hatte. In was für eine Welt er sich hineinkämpfte.
Was würde folgen auf die unsicheren, von immer neuen Rückschlägen gekennzeichneten Jahre, in denen er sich, wie er nun einsehen musste, von nicht haltbaren Idealen gelenkt, in der Pose des unverstandenen Aufklärers gefallen hatte?
Aus dem Hinterhof drangen Kindergeschrei und das von einem Lederball erzeugte schmatzende Klatschen gegen die Hauswand zu ihm herauf, durchsetzt vom Krähen und nasalen Pressen einer Säuglingsstimme und von den Kunstreden monotoner TV-Dialoge. Bertram schloss die Augen.
Das Gedächtnis will nicht leiden. Es versucht, selbst in den sinnlosesten Konstellationen einen Sinn zu erkennen. Trotzdem zwang Bertram sich, diesem Impuls jetzt zu widerstehen. Und so malte er sich, mutig wie jemand, der aus großer, sicherer Entfernung auf die gefahrvolle Erde zurückgekehrt war, aus, wie sein zukünftiges Leben aussehen würde, ein Leben mit Paul und Amina.Er würde eintreten in ihren Kreis. Und endlich Verantwortung übernehmen. Ja, das werde ich, murmelte Thomas Bertram, sich selbst ermahnend, und spürte, wie seine Glieder schwer wurden. Dann schlief er ein.
Als er nach vier traumlosen Stunden erwachte, fühlte er sich zerschlagen, und sein Schädel dröhnte. Er sah auf den Wecker, der auf dem Nachttisch stand, und ließ sich zurücksinken. Das Telefonkabel hatte er aus der Wand gezogen. Sollte die Welt da draußen sich ruhig noch eine Weile ohne ihn weiterdrehen und ihre Katastrophen produzieren. Was ging ihn das alles noch an? Wahrscheinlich waren die Geiselgangster, nachdem dieser Journalist zu ihnen in den Wagen gestiegen war, längst über alle Berge. Das alles erschien ihm plötzlich ganz weit weg.
Das Leben ging weiter. So oder so. Selbst nach solchen Ereignissen wie Mogadischu oder der Ermordung von Jürgen Ponto und der Entführung und Hinrichtung von Schleyer im heißen Herbst 1977 war es, nachdem die mediale Empörung sich gelegt hatte, weitergegangen, und alle waren zur Normalität zurückgekehrt. Und genauso würde es nach den Ereignissen von Gladbeck, Bremen und Köln sein, alle würden zur Normalität zurückkehren, abdriften ins Private.
Man würde sich an das Gesicht von Silke Bischoff erinnern und an die Waffe an ihrem Hals. Und an den toten italienischen Jungen. Und vielleicht auch noch an Rösners absurde Show mit seinem Colt am Bremer Busbahnhof im Blitzlichtgewitter der Fotografen. Aber sonst?
Es war Sommer, und die Leute würden vielleicht noch ein paar Tage in Urlaub fahren, nach Mallorca oder Rimini. Oder sonst wohin. Und spätestens dann, nach ihrer Rückkehr, würde Gladbeck Geschichte sein. Denn schon standen der Beginn der neuen Bundesliga-Saison und die Olympischen Sommerspiele in Seoul vor der Tür. Mediale Großereignisse. Die Karawane zog weiter. Und vielleicht war das ja okay so. Denn auch er würdeweiterziehen. Seine Aufgabe würde fortan darin bestehen, sich als Vater zu bewähren. Und als Oberhaupt einer eigenen kleinen Familie. Irgendwo hatte er einmal gelesen, dass das Politische im Privaten beginne. Der Gedanke gefiel ihm und würde fortan sein Leitspruch sein. Denn er gab ihm das Gefühl, eine im Kern sinnvolle Sache zu verfolgen.
Bertram dachte an Sylvia. Er stellte sie sich in einer enganliegenden Bluse vor. Und der Gedanke, am Ende womöglich mit ihr im Bett zu landen, stachelte ihn regelrecht an, und er griff nach seinem Glied.
Bis zu ihrem Treffen blieben ihm noch ein paar Stunden. Er würde erst einmal ausgiebig duschen, sich einen starken Kaffee kochen und dann ins Krankenhaus fahren. Vorher aber
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