Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
nun wusste kein Mensch, wo sie war. Nicht einmal Helga.
Sie sah wieder aus dem Fenster. Die Sonne überzog die spärlicher werdenden Wolken mit einem seidigen, goldfarbenen Glanz, und die Tragfläche, deren Spitze sie von ihrem Platz aus sehen konnte, wirkte wie ein glühendes Schwert, das ein eisblaues Meer durchschnitt.
Brigitte nahm wieder Chandlers »The Long Goodbye« hervor und schlug es an der Stelle auf, wo Mariannes Brief als Lesezeichen lag. Martin hatte Chandler sehr gemocht, neben Autoren wie Hammett, Jim Thompson und Ross Thomas. Er hatte ein Faible für amerikanische Krimis gehabt und immer wieder vergeblich versucht, sie von deren Reiz zu überzeugen. Auf jeder seiner Arbeitsreisen hatte er Krimis dabeigehabt, James Lee Burke, Robert Ludlum oder Tom Clancy. Auf seine letzte Reise nach Beirut, daran erinnerte sie sich wegen des sprechenden Titels noch so genau, hatte er den Roman »Journey Into Fear« von Eric Ambler mitgenommen.
Sie nahm den Briefumschlag und legte ihn demonstrativ vorsich auf das heruntergeklappte Tablett und betrachtete nachdenklich Mariannes Handschrift. Als sie sah, dass die Stewardessen begonnen hatten, das Essen auszuteilen, schob sie ihn wieder in das Taschenbuch zurück und klappte es zu.
***
Routiniert zog er die Klinge durch die geschlossene Schaumschicht, kratzte Bahn um Bahn in dem welligen, schneeweißen und leicht nach Zitrone duftenden Schaum den Untergrund frei. Anschließend packte Bertram seine Nasenspitze, bog sie leicht zurück und setzte den Rasierer zunächst rechts, dann links unterhalb des jeweiligen Nasenlochs an und schabte die Stoppeln bis an den Rand der Oberlippe ab. Zuletzt ließ er den eisblauen Einwegrasierer mit einem Glucksen in das mit einer trübgrauen, lauwarmen Lauge halbgefüllte Waschbecken plumpsen, auf der seine Bartstoppeln trieben, wusch sich die letzten Schaumreste ab, zog den Waschbeckenstöpsel und begutachtete durch Hin-und-her-Drehen seines Gesichts das Resultat im Spiegel.
Seine wie eine zusammengerollte Raupe auf der Ablage darunter liegende Citizen zeigte 19 Uhr 22. In zehn Minuten erwartete Sirvan seinen Anruf.
Er trocknete sich das Gesicht ab und rieb es mit Cool Water ein. Er selbst hätte sich wahrscheinlich wieder Brut 33 gekauft, doch Amina hatte ihm die Flasche zum Geburtstag geschenkt und wollte, dass er wie der Cool-Water-Mann in der TV-Werbung roch. Anschließend riss er das Paket mit seinen gewaschenen und gebügelten Hemden aus der Reinigung am Rudolfplatz auf, zog ein kurzärmliges blaues Lacoste-Hemd heraus und streifte es über.
Er sah wieder auf die Uhr. Jeden Moment musste das Telefon klingeln. Da fiel ihm ein, dass er den Telefonstecker noch gar nicht wieder in die Buchse zurückgeschoben hatte. Spontan beschloss er, es auch im Moment nicht zu tun. Was Sirvan ihm angeblichso Wichtiges sagen wollte, konnte bis morgen warten. Stattdessen beschlich ihn ein schlechtes Gewissen, wenn er an Amina dachte. Er hatte ihr versprochen, nach dem Dreh am Morgen ins Krankenhaus zu kommen. Am besten, er hinterließ bei der Stationsschwester eine Nachricht für sie. Ja, so würde er es machen. Er würde Schwester Andraes bitten, ihr auszurichten, dass er noch mal in die Redaktion müsse und am nächsten Morgen rüberkomme. Er würde sie vom Carlo aus anrufen.
Aus den Boxen seiner Anlage im Schlafzimmer schallten die letzten Takte von Petersons »A Foggy Day«, und Thomas Bertram spürte, wie die Spannung in seinen Lenden langsam stieg. In knapp einer Stunde würde er Sylvia gegenübersitzen. In seiner Vorstellung hatte das Treffen mit ihr etwas vom letzten erotischen Aufbäumen eines Mannes in Freiheit, bevor er sich tags darauf willig die Fesseln der Ehe anlegen ließ.
Er machte den letzten Knopf seines Hemdes zu. Ein Mann, der eben Vater geworden war und doch mit seinen Gedanken woanders war. Er wollte, er musste es einfach noch einmal wissen. Dieses Geplänkel zwischen Sylvia und ihm ging schon viel zu lange. Anschließend würde er in den Kreis eintreten, in Pauls und Aminas Welt. Ganz sicher.
Er zog die Jalousie hoch und spähte hinaus. Die ersten Takte von »Like Someone in Love« erklangen. Über den bereits konturlosen Dächern, deren Silhouetten mit ihren Schornsteinen, Satellitenschüsseln und Antennen sich scherenschnittartig gegen den Himmel abhoben, wechselte das Rot bereits in ein intensives Violett über, durchsetzt von lachsfarbenen Streifen und Flecken, die aufleuchteten und sich schon in der nächsten
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