Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
in einem Krisengebiet herunterbeten:
»Erstens: Verabrede dich mit keinem, dem du nicht absolut vertraust. Zweitens: Verlasse nie ein Gebäude, ohne dich zu vergewissern, dass keine verdächtigen Fahrzeuge herumstehen. Drittens: Gehe nicht davon aus, dass ein Ort, der gestern sicher war, es auch heute noch ist. Viertens: Trage immer eine schusssichere Weste. Hinzu kommen: Natürliche Feigheit. Mehrere Hundertdollarnoten, die in den Saum deiner Hosenbeine eingenäht sind. Und vor allem, das Wichtigste, ein gesundes Misstrauen.«
Wie oft hatte sie ihn diese Sätze in Gesprächen mit anderen sagen hören. Sie waren ihm über die Jahre in Fleisch und Blut übergangen und zu so etwas wie seinem ganz persönlichen Mantra geworden. Am Ende aber war seine Neugier größer gewesen als sein Misstrauen.
»Dummer Junge«, murmelte Brigitte wehmütig, »hast gedacht, du könntest das Böse mit deinen paar Regeln in Schach halten.« Dabei ließ sie ihre Finger zärtlich über seine Sachen gleiten und schloss kurz die Augen.
Sie nahm eine Jeans, zwei, drei leichte Blusen sowie eine Handvoll T-Shirts heraus, legte sie neben sich auf den Boden und zog die Schublade auf, in der sich ihre Unterwäsche befand.
Eine Stunde später stand ihre Piké-Tasche gepackt im Flur, und die eingeschlagene Fensterscheibe in der Küche war ausgetauscht. Das Taxi war für drei Uhr bestellt. Bis dahin blieben ihr noch knapp zwei Stunden. Genug Zeit für einen Gang zum Zigarettenautomaten. Und für zwei, drei Gläser gekühlten Rotwein, um ihre flatternden Nerven zu beruhigen.
22
Kölnische Rundschau
Schüsse peitschten im Rauch der Blendgranaten.
Geiselgangster bei Bad Honnef überwältigt –
Fluchtwagen von hinten gerammt.
Köln/Siegburg: Die Hitze steht über der A3, die Luft flirrt. Es ist totenstill. Zwei dunkle Limousinen rasen über die abgesperrte Autobahn, im Sichtschutz einer Bergkuppe, schwerbewaffnete Männer. Es sind Männer des SEK. Sie jagen die Geiselnehmer. Eine halbe Stunde später ist alles vorbei. Und das Ende blutig: Silke Bischoff liegt tödlich getroffen auf der Fahrbahn. Helfer versorgen unterdessen die schwerverletzte zweite Geisel Ines V. und die angeschossene Marion L.
***
Frankfurter Rundschau
»Und alles vor laufenden Kameras.«
Die Geiselnahme, die Polizei und die Medien –eine unerträgliche Geschichte.
Skeptiker behalten recht: Eine der beiden Geiseln, eine junge Frau aus Bremen, erliegt eine Stunde nach dem Schusswechsel ihren Verletzungen, auch die zweite ist durch einen Rückensteckschussschwer verletzt. Und alles vor laufenden Kameras! Doch auch mit dem letzten Schuss wird diese Geschichte nicht beendet sein. Was bleibt, sind Fragen.
Die Leiter stellte er dem Hausmeister einfach vor die Tür, und die Kamera lieferte er wortlos im Technischen Büro ab. Anschließend fuhr er, ohne noch einmal einen Blick in die Redaktion zu werfen, mit der Straßenbahn zurück in die Stadt.
Nun saß Thomas Bertram verschwitzt und desillusioniert auf der obersten Treppenstufe vor seiner Haustür und sah gleichgültig den vorbeifahrenden Autos hinterher.
Eigentlich könnte ich zufrieden sein, dachte er. Das Schicksal hat mir gegen alle Prognosen am Ende doch noch einen lebensfähigen Sohn beschert. Und das Kapitel RTL ist beendet. Trotzdem wollte sich das Gefühl von Zufriedenheit einfach nicht einstellen. Warum nicht?
Er öffnete die Haustür und trat in den angenehm kühlen Flur. Als er zwei Minuten später oben in seiner Wohnung stand und die trotz der gekippten Fenster abgestanden und leicht säuerlich riechende Luft einatmete, war ihm, als sei er eine Spur zu lange fort gewesen. Als hätte im Verborgenen bereits ein rasant um sich greifender Fäulnisprozess eingesetzt, in den finsteren Ecken hinter dem Kühlschrank und dem Herd, wo sich auf dem Boden die Staubmäuse paarten und rasant für Nachwuchs sorgten, unter der Spüle und im Dämmer unter dem Waschbecken im Bad, wo er in einer Plastiktonne seine schmutzige Wäsche sammelte. Er stellte sich heimtückische Verfallsbeschleuniger vor, Sporen und Bakterien, aggressiv und mikroskopisch klein, die nur darauf warteten, auf ihn überzugreifen und ihn so lange zu attackieren, bis er sich geschlagen gab und Risse und blutige Abszesse sichtbar wurden, unter den Armen, im Schritt und zwischen den Fingern und Fußzehen.
Bertram schob diese kranke Phantasie unwirsch beiseite und dachte, er sollte, statt rumzuspinnen, endlich seine Eltern anrufen und ihnen erzählen, was
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