Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
Züge vor ihrem inneren Auge heraus: die hohe Stirn, die etwas weit auseinanderstehenden hellwachen Augen und der breite, herzförmig geschwungene Mund – ein schmales, wohlproportioniertes Gesicht von makelloser Schönheit, das braunes, glatt herabhängendes und von ihr meist wenig phantasievoll arrangiertes Haar umrahmte. Dazu ihre langen, auffallend feingliedrigen Hände, die in Brigittes Augen immer etwas Spinnenartiges besessen hatten.
Wie sah Marianne, die schöne Marianne, wie Martin seine Schwester stets halb bewundernd, halb ironisch nannte, heute, nach den sechs Jahren, die seit ihrem letzten Zusammentreffen in Köln im Jahr 1982 verstrichen waren, und gezeichnet von einer offenbar todbringenden Krankheit, wohl aus? Es war ja hinlänglich bekannt, wie bösartige Erkrankungen im Gesicht eines Menschen wüten konnten.
Ganz im Gegensatz zu Martin hatte Marianne stets auf ihre Ernährung geachtet, hatte Sport getrieben, Handball gespielt und Alkohol nur in Maßen konsumiert, am liebsten spanischen Rotwein, Tempranillo. Außerdem rauchte sie nicht, abgesehen von dem einen oder anderen Joint, den sie sich, wenn es spät geworden war, in Brigittes Kölner Küche drehte. Trotzdem lag sie nun offenbar im Sterben, und Brigitte konnte es auf einmal kaum noch erwarten, bei ihr zu sein. An ihrem Bett zu sitzen und ihre Hand zu halten. So, wie sie gern an Martins Seite gewesen wäre, als er starb.
Warum hatte Marianne ihr geschrieben und sie gebeten zu kommen? Ausgerechnet jetzt, nach all den Jahren der Funkstille? Weil es zu Ende ging mit ihr und sie vorher noch reinen Tisch machen wollte, wie man so schön sagte? Gab sie sich am Endedoch noch eine Mitschuld an Martins Tod? War es das, was sie sich von ihrem Besuch versprach? Dass sie sie davon freisprach und ihr damit den Weg freimachte in die ewige Ruhe? Damit sie unbeschwert sterben und loslassen konnte? Endlich erlöst war?
Wer wollte das nicht, mit sich im Reinen sein, wenn es ans Sterben ging? Keinem Menschen, der ein halbwegs ausgeprägtes Gefühl für Anstand und Moral besaß, gefiel die Vorstellung, mit einem Packen offener Rechnungen abzutreten. Unweigerlich kam ihr der Gedanke an ihr eigenes mögliches Ende in den Sinn. Als Kind hatte sie sich den Tod als das letzte Land vorgestellt, das sie besuchen würde, nachdem sie zuvor alle anderen betreten und gesehen hatte. Ein Land, dunkel und geheimnisvoll, fernab und ganz anders als sämtliche Länder, Zeitzonen und Inseln, von denen sie bis dahin gehört haben würde.
Brigitte hatte nie Angst vorm Sterben gehabt. Immer nur vor dem der anderen, weil sie damit Menschen verlieren würde, die ihr nahestanden, die Teil ihres eigenen Lebens geworden waren, auch wenn deren Zahl durch die Jahre und Jahrzehnte hindurch höchst überschaubar geblieben war. Angefangen bei ihrem in Hanau lebenden Vater, den sie immer, wenn auch auf eine eher distanzierte, schwer erklärbare Weise, liebte, auch wenn sie ihn zuletzt kaum noch gesprochen, geschweige denn gesehen hatte. Bis hin zu ihrem ebenfalls in Hanau lebenden Bruder, mit dem sie hin und wieder telefonierte. Und dann war da natürlich noch Helga, die ihr Halt gab und an sie glaubte. Helga war über die Jahre zur wichtigsten Person ihres Lebens geworden. Alle anderen, Freunde und gemeinsame Bekannte, waren verschwunden. So, als hätte es sie nie gegeben.
Brigitte hielt es, was das Sterben anging, lange mit dem griechischen Philosophen Epikur, der einmal gesagt haben soll: »Wenn ich da bin, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, bin ich nicht da.« Diese Vorstellung gefiel ihr, schenkte ihr ein Stück Freiheit.
Bis zu Martins jähem Tod hatte sie diesseitig gelebt, ganz im sogenannten Hier und Jetzt. Sie nahm mit, was das Leben ihr anbot, Feste, Partys, Urlaube, Reisen. Und sie fühlte sich gut dabei. Mit seinem Tod hörte all das auf. Gehörte einer vergangenen Zeitrechnung an. Jeder Gedanke in diese Richtung erschien ihr für immer vergiftet zu sein.
Sie musste wieder an das denken, was dieser Boris ihr angetan hatte. Diese Sauerei. Sie dachte: Warum hab ich blöde Kuh dieses Schwein überhaupt in mein Haus gelassen? Und natürlich hätte sie die Polizei rufen sollen, damit sie diesem Verbrecher das Handwerk legte und sie ihr geliebtes Panther-Collier zurückbekam. Doch sie hatte einfach nicht die Kraft besessen, die Polizei in ihr Haus zu lassen und ihre bohrenden Fragen zu beantworten. Sie hatte bloß noch weggewollt, raus aus der ganzen Situation. Und
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