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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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würde er Sirvan anrufen, auch wenn sie etwas anderes abgemacht hatten. Der Gedanke, extra dafür aufstehen und hinüber in die Diele laufen und den Stecker in die Telefonbuchse schieben zu müssen, behagte ihm überhaupt nicht. Dazu fühlte er sich einfach viel zu erschöpft. Nein, das konnte warten. Später, sagte er sich, drehte sich um und schloss die Augen.
    ***
    An der Anschlussstelle Flughafen, die auf die L 84 überging und weiterführte in Richtung Köln/Bonn, stockte der Verkehr. Nach weiteren 300 Metern im Schritttempo kam er schließlich zu Brigittes Entsetzen aufgrund von Straßenbauarbeiten und einer Verengung der Fahrspuren ganz zum Erliegen.
    Überall in der Stadt seien die Straßen aufgerissen, erklärte ihr der Fahrer zerknirscht. »Schlaglöcher, Kieslaster, Betonmischer, Umleitungen. In Köln Taxi zu fahren ist die Hölle, der Verkehr steht ja praktisch dauernd still, und die Kunden lassen ihre schlechte Laune an uns aus.«
    Brigitte ließ das Gerede des Fahrers kommentarlos über sich ergehen und sah auf die Uhr. Hinter dem verkratzten, milchigenMineralglas standen die Ziffern reglos auf der von ihr eingestellten Zeit: 14 Uhr 20. Dem damaligen Zeitpunkt seines Todes. Um zwei Uhr mittags Beiruter Ortszeit, das hatte sie später erfahren, hatte Bachir Gemayel Martin und seine ausländischen Kollegen in Aschrafija empfangen, zwanzig Minuten später war die Bombe detoniert. Trotzig hatte sie sich Martins defekte Omega ums Handgelenk gebunden.
    »Wie spät ist es?«, rief sie nach vorn.
    »Kurz vor halb vier«, antwortete der Fahrer und fixierte sie kurz im Rückspiegel. Bis zum Einchecken am Lufthansa-Schalter blieben ihr also noch gut dreißig Minuten. Nun, da sie standen und die Abgase durch die offenen Fenster und die Lüftungsschlitze ungebremst hereindrangen, hatte sie einen Geschmack auf der Zunge, als lutschte sie an der Spitze eines Bleistifts. Am liebsten hätte sie ausgespuckt.
    Sie wurde unruhig. Außerdem schwitzte sie fürchterlich. Sie dachte: Statt des Hemdes, dessen Ärmel sie bereits fast bis zu den Schultern hinaufgekrempelt hatte, hätte ich doch besser eines meiner luftigeren T-Shirts anziehen sollen. Aus dem Wagen vor ihnen ertönte das sture orgiastische Stampfen einer Rockband.
    Sie fischte ein Tempo-Taschentuch aus ihrer offenen Louis-Vuitton-Handtasche, schloss die Augen und wischte sich damit übers Gesicht. Als sie es herunternahm und die Augen öffnete, sah sie die Bescherung: Sie hatte sich unabsichtlich das aufgelegte Make-up abgewischt. Ungläubig sah sie auf das mit braunen Streifen und Flecken übersäte Tuch. Ärgerlich fuhr sie sich damit so lange wieder und wieder durchs Gesicht, bis sie das Gefühl hatte, auch die letzten Reste des klebrigen Puders weggewischt zu haben. Das Tuch warf sie einfach aus dem Fenster. Sie war nicht mehr geübt in diesen Dingen. Sich schminken. Nägel lackieren. Haare toupieren. Sie hatte einfach keinen Wert mehr darauf gelegt. Warum auch? Und für wen? Für einen Toten?
    Ihr Blick fiel auf die aufgesprungenen Innenseiten ihrer Hände. Langsam und bedächtig, wie man einen ungewöhnlichen, von Linien und Einschlüssen durchwirkten Stein betrachtet, studierte sie im schräg hereinfallenden Sonnenlicht die kleinen Verletzungen und rötlichen Vertiefungen darin, seufzte und sah aus dem Fenster, wo jenseits der Leitplanke die Braun- und Grüntöne ineinander verschwammen.
    Inzwischen war die Hitze kaum noch zu ertragen, ihr Kopf fühlte sich an, als presse ihn ein schweres Stahlband zusammen. Vor ihnen hatten die Fahrer die Türen ihrer Autos aufgestoßen und waren ausgestiegen. Sekundenlang beschlichen Brigitte Zweifel. Die Hitze, der Gestank, das sinnlose Warten – warum tat sie sich das an?
    Dann kam endlich wieder Bewegung in die Sache. Als sie die Baustelle passiert hatten und der Verkehr wieder auf zwei Fahrbahnen floss, trat der Fahrer so heftig aufs Gas, dass es sie in den Sitz drückte. Sofort drang der warme Fahrtwind durch die offenen Fenster herein, schwer und brausend. Kurz darauf schoben sich am Horizont zwischen größeren Baumgruppen hindurch die silbrigen, in der Sonne schimmernden Umrisse des Flughafens mit seinen Terminals ins Bild, der Wagen beschrieb eine 180-Grad-Kurve, und Brigitte streckte zur Abkühlung ihren rechten Arm aus dem Fenster.
    Lange stemmte sie ihre Handfläche gegen die anprallenden Luftmassen. Wer ist stärker? Ich oder du?, bis der Druck zu groß wurde, sie sich geschlagen gab und den Arm sinken

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